Heim heim heim (Hamburg Bern)

Das Ungemach beginnt mit einer Durchsage kurz nach Mannheim: Liebe Fahrgäste, leider sind bei Bauarbeiten unplanmässige Störungen aufgetreten. Zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob unser Zug über Karlsruhe hinaus verkehren kann. Ich habe an Stefanies plötzlichem Aufrichten gemerkt, dass die Durchsage wohl wichtig war, war in meinem Buch versunken. Was ist los, sage ich. Irgendwie sind sie nicht sicher, ob wir weiterfahren können, sagt Stefanie.

Im Wagen hat sich Unruhe bereitgemacht, Leute checken auf ihrem Handy, das Teenager-Girl das mit dem kleinen Bruder alleine unterwegs ist im Abteil schräg uns gegenüber ruft mal daheim an. Später heisst es noch, dass der Zug „voraussichtlich“ weiterfahren könne, bald ist aber klar: keine Chance. „Ich sage dir, ich will nie mehr mit Sven alleine verreisen“, sagt das Mädchen ins Telefon, und später zum Bruder: „Es hat nichts mit dir zu tun, Sven, ehrlich nicht, aber die Verantwortung ist mir einfach zu gross.“ Da wir später undeutlich erkennen, dass sie ihn umarmt, denken wir, dass er wohl geweint hat. Ich sage zu Stefanie, wir könnten sie einfach mitnehmen, wenn wir keine Velos hätten. Die Kids wollen nach Basel Badischer Bahnhof – aber Schienenersatzverkehr nimmt in der Regel keine Velos mit.

Da unsere Velos in der ersten Klasse ganz vorne im Zug stehen, müssen wir eh bald los, damit wir es durch alle Wagen schaffen. Stefanie hält bei den Kids an und sagt ihnen, ihr geht dann raus und hört auf die Lautsprecher. Dort wird gesagt, wie es weitergeht. Die meisten Leute werden weiterfahren wollen – folgt ihnen oder fragt einen DB-Verantwortlichen. Da fällt mir auf, dass seit der Durchsage keine SchaffnerInnen mehr aufgetaucht sind.

Bald kennen wir auch den Grund: Nachdem wir uns durch sechs oder sieben Wagen gekämpft haben, durch Leute mit wenig Verständnis, warum wir nicht in unserem Wagen aussteigen können, schaffen wir es zu Surly und Velotraum – und zu den SchaffnerInnen. Zu sechst oder siebt sitzen sie in der ersten Klasse zusammen. Mit Müh und Not schafft Stefanie es, dass sie die Zugbindung unserer Tickets aufheben – keineR von ihnen kümmert sich um die Leute, zum Beispiel um die Kids aus unserem Wagen.

In Karlsruhe ist der Bahnhof proppevoll, wir retten uns auf den Bahnhofsplatz und beraten. Schienenersatzverkehr ist keiner zu sehen, alle strömen auf die S7 – da haben wir keine Chance. Wir warten eine Stunde, trinken etwas und fahren dann mit der S8, in der wir gerade noch so Platz finden, nach Rastatt. Der kleine Bahnhof ist voller Leute, sie strömen auf den Platz hinaus, umringen die Linienbusse, fragen, wie man weiter nach Baden-Baden komme. Schienenersatzverkehr ist keiner zu sehen.

(c) Scheuner

Rastatt: Die Fahrer der Linienbusse werden gelöchert, wie man weiter in Richtung Süden komme.

(c) Scheuner

Wenn es hier je Schienenersatzverkehr gibt, haben wir mit den Velos keine Chance…

Wir haben zwei Paare aus der Schweiz getroffen und unsere Pläne mit ihnen ausgetauscht. Sie entscheiden sich dann auch, auf ihre Räder zu steigen und die zehn Kilometer nach Baden-Baden zu fahren. Dort finden wir ziemlich komfortabel Platz auf dem Perron – bis klar wird, dass der ICE aus dem Süden nicht bis Baden-Baden fahren wird – er wurde früher gestoppt, damit Baden-Baden nicht noch mit Reisenden aus dem Süden überfüllt wird, die nicht in den Norden weiterreisen können. Alle Reisenden, die den ICE hätten nehmen können, also keine Velos dabei haben, strömen jetzt auf unser Perron. Mir wird eng, als ich die Menge sehe. Ein Mann ruft uns zu, ihr könnt fahren, ihr habt ja kein Problem. Der Witz in seiner Stimme verschleiert nur schlecht den aggressiven Unterton. Zu spät denke ich über eine Replik nach: Sie haben Füsse, Sie können gehen. Oder ein Taxi nehmen.

Um uns herum füllt sich der Platz, ein Amerikaner möchte etwas am Selecta-Automaten holen, wir machen Platz. Eine Frau weint. Es werden immer mehr Menschen. Du, sage ich zu Stefanie, ich will da nicht reindrücken, das ist mir zu heikel. Die zwei anderen Paare, eines aus Bremgarten BE und eines aus der Innerschweiz wurden durch die aufs Perron drängenden Leute von uns weggeschoben. Sie haben weniger Gepäck und werden es vielleicht schaffen. Da fährt der Zug ein, eine normale Wagenkombination eines Regiozuges. Mir wird schlecht.

Die Menschenmasse drängt auf die Türen zu, stopft sich rein, zieht Koffer und Kinder hinterher, stösst einander Kinderwagen in die Hacken, jede und jeder will rein, wer zu schwach oder anderweitig benachteiligt ist, fällt raus. Ich denke an Brecht, ja, hier ist jedeR sich selbst der/die Nächste. Da ein Teil der Menschen es in den Zug schafft, ist endlich der Weg zu den Treppen frei, wir schieben unsere Räder die Rampe hinunter und sind draussen. Dort sind mittlerweile Busse aufgetaucht, mehrere Ambulanzen, Feuerwehrautos und ein Auto mit einem Anhänger voller Dixi-Klos. Notfall-Seelsorge steht auf den dunkelblauen Jacken etlicher älterer Frauen. Na endlich, denke ich.

Wir versuchen noch, ein Taxi zu bekommen und ein Mann ist auch willig, es zu versuchen. Aber wir kriegen nie und nimmer beide Velos mit Gepäck und uns rein – ausserdem kostet die Fahrt nach Basel 300 Euros.

Wenig später sind wir wieder unterwegs, fahren der Bahn entlang in Richtung Süden. 250 Kilometer sind es nach Bern, ich male mir Katastrophenszenarios aus, dass wir immer weiterfahren und jeder Bahnhof überfüllt ist. Wir beschliessen, eine Nacht irgendwo zu verbringen. In rund 12 Kilometern Distanz finde ich einen Camping, rufe an, ja, die Frau wartet auf uns.

In der einsetzenden Dämmerung schaffen wir es, finden den Camping, überfallen die arme Frau mit unserer Geschichte, so dass sie sagt, stellt mal auf, geniesst den Abend, den Rest schauen wir morgen. Es ist ein schöner Camping, an einem See, fast noch hübscher als der in der Nordheide, natürlicher einfach, wir duschen und essen im Restaurant. Insofern ist es ein gemütlicher Abend – nur halt nicht total entspannt – die Arbeit am Montag drückt auf meine Stimmung.

Der Morgen rollt an, bald sitzen wir mit unserem Frühstück auf den Knien und schauen auf den See hinaus. Der Plan ist, nach Achern zu fahren und zu hoffen, dass wir dort einen Zug erwischen.

Das klappt. Allerdings verpassen wir den Anschluss in Offenburg um vermutlich zehn Sekunden. Ich stecke noch im Lift, der mich aufs Perron bringt, Stefanie ist schon oben, der Schaffner verbietet ihr, noch einzusteigen.

Ein Regionalzug bringt uns nach Basel Badischer Bahnhof. Auf den Klappsitzen im Veloabteil sitzen Leute. Darf ich Sie bitten, Platz zu machen, fragt Stefanie höflich, dies ist ein Veloabteil. Die Leute murren, wollen nicht aufstehen. Dabei steht an der Wand, man solle für einen reibungslosen Ein- und Aussteigeverkehr den Velos, Kinderwägen und Rollstühlen Platz im Abteil machen. Eine Frau sagt, wir sind schon lange unterwegs, mussten warten. Wir auch, sage ich, wir sind vierundzwanzig Stunden zu spät. Da sagt sie nichts mehr, sie stehen auf, wir zurren die Velos fest. An fast allen nachfolgenden Stationen steigen weitere Velos zu, man kommt kaum mehr durchs Abteil.

Im Wagen unterhalten wir uns mit einem Paar, das mit den Velos von Basel nach Nizza fährt in drei Wochen. Sie haben den Urlaub noch vor sich.

Gegen halb fünf erreichen wir den Badischen Bahnhof, helfen dem Paar noch auf den Weg in Richtung Süden und fahren dann zum Bahnhof SBB. Fast 26 Stunden später als geplant sind wir endlich endlich daheim. Der Erholungseffekt durch die Ferien ist schon wieder fast gänzlich verpufft.

(c) Katharina

 

 

 

 

 

 

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