Wir erwachen, von draussen sind die üblichen Geräusche des morgendlichen Campingplatzes zu hören, Schritte im Gras, Reissverschlüsse, Toilettengeräusche von weiter her, Autos fahren vorbei, alles nah und weit weg zugleich. Stefanie dreht sich im Schlafsack zu mir um und sagt, du, meinst du, wir könnten noch eine Nacht hierbleiben? Wir seien noch gar nicht im Watt gewesen und dann hätten wir auch mehr Zeit für die Seehund-Station und vielleicht fürs Teemuseum und ab hier wären wir ja dann nicht mehr am Meer.
Bald sitzen wir wieder in unseren Stühlen, schlürfen Tee und schieben Brot mit Spiegelei in den Mund und haben Frühstücksfernsehen: Die Familie mit dem kleinen Jungen packt zusammen, belädt die Velos. Ist es fachliches Interesse oder nur Neugier, das uns antreibt, anderen beim Abbau zuzuschauen? Wir diskutieren, was wir sehen, manchmal befürchte ich, dass wir dabei zu laut sprechen. Wie gehen sie vor? Haben sie ein System? Wer trägt wieviel Gepäck? Wirkt es koordiniert?
Die Mädels aus Norddeich sind ja gestern Abend auch noch eingetroffen, sie packen recht schnell zusammen, verabschieden sich von uns und schieben ihre Velos zur Küche. Drei Jungs, die in einem Zelt schlafen und gestern Abend ihre Ortlieb-Taschen in blauen Kehrichtsäcken verstaut und ausserhalb des Zelts gelagert haben, packen zusammen. Sie kommen kaum vorwärts, immer sind nur zwei mit Packen beschäftigt, was der dritte macht, ist unklar. Einer fährt dann mal mit bepacktem Velo weg und sagt, er sei beim W-LAN.
Zwei andere Jungs haben in einem recht kleinen Zelt geschlafen, neben dem keine Velo standen. Es stellt sich heraus, dass sie mit dem Rucksack unterwegs sind. Die Familie verabschiedet sich, als sie ihre Velos an uns vorüberstossen, der kleine Junge hat zwei Frontroller-Saccochen hinten und einen Sack quer. Stolz schiebt er sein Velo an uns vorbei. Wetten, dass er einen Sack quer hat, weil die Eltern das so haben, sagt Stefanie.
Auf der Suche nach dem Seehund-Zentrum fahren wir zu weit, wohl wegen der unbeladenen Velos und dem leichten Rückenwind, von dem wir uns verleiten liessen, einfach die Fahrt geniessen. In der Seehund-Station werden junge Seehunde aufgepäppelt, die verwaist sind. Das kann passieren, wenn die Mutter stirbt, wenn sie das Junge aus unbekannten Gründen verlässt oder wenn die beiden durch Ebbe und Flut voneinander getrennt werden.

Seehunde in der Auffangstation in Norddeich.
Seehunde gehören zum Wattenmeer, das war mir nicht bewusst. Sie sind unheimlich gute Taucher und können bis eine halbe Stunde unter Wasser bleiben. Das schaffen sie, weil sie rund dreimal mehr Blut als wir haben und ausserdem viel mehr rote Blutkörperchen. Zusätzlich können sie Sauerstoff in den Muskeln speichern. Bei diesen langen Tauchgängen senken sich Herzschlag und Atmung, und die Verdauung setzt aus.
In einem Becken tummeln sich einige grössere Seehunde, die liegen auf der Seite, Kopf und Schwanz anghoben, die Flossen bewegen sich scheinbar selbständig, wie sich bei manchen Leuten ihre Zehen wie selbständig bewegen. Einige Seehunde im Wasser treiben senkrecht an Ort und Stelle und legen den Kopf so weit zurück, dass ihnen die Sonne aufs Kinn scheint. So eloquent sie im Wasser scheinen, so elegant, so fliessend ihre Bewegungen im Wasser ind, so träge wirken sie an Land, bewegen sich hopsend vorwärts, die kurzen Flossen an der Seite nutzlos, die Gesichter freundlich. Einer hat sich in die Rinne manövriert, die am Rand des Betonbereichs angebracht ist, die zusammen mit dem Wasser das Gehege ausmachen. Er kommt kaum wieder heraus, ruggt vor und zurück, wie ein Auto, das in eine Rille gefahren ist.
Seehunde können offenbar im Wasser schlafen, sie treiben dann unter der Oberfläche und tauchen im Halbschlaf alle rund sieben Minuten auf, um nach Luft zu schnappen. Das Leben der Seehunde ist an den Wechsel von Ebbe und Flut im Wattenmeer ausgerichtet. Sie sonnen sich auf Sandbänden bei Ebbe und bewegen sich bei Flut im Wasser. Steht eine Niederkunft an, so beginnt sie nicht, bis das Wasser eine Sandbank freigibt. Die Mutter kann die Wehen so steuern, dass der Zeitpunkt stimmt. Das Junge hätte sonst keine Überlebenschance. Noch so ist die Zeit knapp. Denn bei der nächsten Flut müssen beide ins Wasser, das Kleine kann sofort schwimmen. Nur manchmal ruht es sich auf dem Rücken der Mutter aus.
Die jungen Seehunde sind in Dreier- und Vierergruppen in kleinen Gehegen untergebracht, die ebenfalls halb aus Betonfläche, halb aus Wasser bestehen. Einige Tiere liegen an Land, andere schwimmen, immer wieder kann man einem zuschauen, das sich plump und unbeholfen an Land müht. Die Kleinen können es nicht alle so gut und rutschen immer mal wieder zurück und brauchen mehrere Anläufe. Frisch an Land gekommen, glänzen ihre muskulösen Leiber silbrig im Licht, sind sie schon länger draussen, trocknet das Fell und wid erst als solches erkennbar.
Gegen Mittag fahren wir landeinwärts in Richtung Norden. Ich habe Hunger und Lust auf eine Currywurst. Doch dann sehe ich einen Buchladen. Wir stöbern herum, dabei stelle ich etwas schockiert fest, dass es kaum richtige Bücher in dem Laden gibt. Die Regale und Tische in dem doch grossen Raum werden ausgefüllt von Geschenkbüchern, leichter, um nicht zu sagen, seichter Unterhaltungsliteratur, Kriminalromanen mit und ohne Lokalkolorit, die ja im Moment total in sind, nichts, was mich zu einem Kauf verleiten würde. Richtige Bücher gibt es nur auf der Seite mit den Spiegel-Bestsellern. So stelle ich mir eine Ferienbuchhandlung vor, in der ich, obwohl sie viele Titel bietet, verzweifeln würde.
Wir finden schliesslich einen vietnamesischen Imbiss, Stefanie kauft sich etwas vom Fischbrötchen-Imbiss. Obwohl ich gerne Fisch esse, ist mir eher nach etwas gebratenem und ich bin mit dem Vietnam-Imbiss zufrieden.
Ebenso zielgerichtet wie wir das Hafenmuseum in Carolinensiel besuchten und nach den Themen suchten, die uns interessierten, besuchen wir das Teemuseum, verwässern den Besuch nicht, in dem wir desinteressiert und nur weil wir Eintritt bezahlt haben, durch alle anderen Abteilungen streifen, wir sind des Tees wegen hergekommen, Kaffee und Schokolade können uns diesmal gestohlen bleiben. Dass in Ostfriesland Tee getrunken wird, geht auf zwei Gründe zurück: Erstens war Holland und damit die ostasiatische Kompanie nicht weit und zweitens war das Wasser in der Moorregion recht brackig und konnte eigentlich erst durch das Aromatisieren mit Tee getrunken werden. Und natürlich als Bier.

Im Teemuseum in Norden wird die „Ostfriesische Teezeremonie“ ganz genau erklärt.
Ein anderer Zusammenhang, der zwischen Tee und Porzellan, hängt damit zusammen, dass Tee ein leichtes Material ist, und Porzellan ein willkommener Ballast auf der beschwerlichen Reise per Schiff von Asien nach Europa.
Anschliessend trinken wir in der Fussgängerzone einen Ostfriesentee im Kännchen, der mit Sahne und Kandiszucker kommt. Nachdem wir zum ersten Mal eingeschenkt haben, geht die Kerze aus und ich sage, dafür, dass es hier ständig windet, haben sie schlechte Kerzchen/Stövchen. Man würde doch hier etwas Windfestes erwarten! Auch zum dritten oder vierten Mal Tee trinken schauen wir gespannt zu, wie sich die Sahne vom Tassenboden abstösst und wie ein Feuerwerk an der Teeoberfläche „explodiert“. Ob wohl so ein Feuerwerk, vom Himmel aus betrachtet, so aussieht?
Mit unseren neuen „Beachies“, den Watt-Socken, die uns mit ihren gummierten Sohlen vor Verletzungen durch Muscheln schützen, machen wir einen Abstecher zum Strand. Überall sieht man Menschen mit langsamen Schritten im Watt herumwandern.

Socken mit gummierten Sohlen, damit man sich die Füsse im Watt nicht an Muschelschalen verletzt.

Wattenmeer ole!

Auf der Fahrradzeltwiese. Stefanie hat sich vor dem Wind ins Zelt zurückgezogen.
(c) Katharina