Corona III: Frankreich ist vorläufig Geschichte

Vive la France, schreibt Roman und wir jubeln: er ist in Frankreich. Für den nächsten Tag verabreden wir uns auf einem Camping, der noch Leute nimmt. Unsere Entscheidung erweist sich als klug, denn während wir noch mit Roman die Einzelheiten absprechen, kommt von seiner Freundin Martina, die uns aus der Schweiz informiert, die Nachricht: Frankreich führt die Ausgangssperre ab morgen zwölf Uhr ein.

Am letzten Velotag in Frankreich fahren wir auf schmalen Pfaden dem Canal du Midi entlang, später direkt am Meer und werden von schönem Wetter verwöhnt. Wir sehen sogar einige Flamingos in flachen Lagunen. Langsam nehmen die Kilometer ab und als schliesslich nur noch fünf übrigbleiben, verabschieden wir uns vom Meer. Ich stecke einen Stein ein und denke, Südfrankreich, wir haben noch eine Rechnung offen.

Langsam pedalen wir in Richtung Roman, oszillieren zwischen der ländlichen Umgebung und der politischen Lage hin und her, die Gefühle sind in der Schwebe und darüber steht die Tatsache, dass es jetzt einfach so ist, wie es ist.

Darf man euch knuddeln, fragt Roman, der in der Türöffnung von Marta sitzt, entspannt und gelassen wie immer. Darüber haben wir eben diskutiert, sage ich und wir knuddeln, schliesslich werden wir die nächsten Tage ohnehin gemeinsam auf ziemlich kleinem Raum verbringen.

Einen guten Freund wieder zu sehen, bedeutet uns viel, der Verzicht auf die Freundschaften war in dem Jahr direkt nach dem Verzicht auf die Gottenkinder das grösste Opfer. Unter den Umständen jetzt ist der direkte Kontakt noch bedeutsamer: wir wissen nicht, wann wir wieder jemanden treffen können oder ob es jetzt einfach mit Skype und Telefon weitergeht.

Drei Tage brauchen wir mit Marta in die Schweiz, die auf der Autobahn am rechten Aussenrand bei 90 km/h schnauft. Allerdings ist in Frankreich seit der Ausgangssperre deutlich weniger los. Wir geniessen die Tage sehr, die voller Gespräche und Sprüche, Lachen und draussen sein, kochen und übers Reisen und Rückkehren reden sind. Eine Nacht verbringen wir hoch über dem Val-d’Isère, wo wir einen traumhaften Platz für unser Zelt finden und wenige Schritte daneben einen akzeptablen Platz für Marta und Roman.

Auf den Strassen wird nun kontrolliert, wer mit dem Auto unterwegs ist, muss ein Formular ausfüllen und mitführen. Für jeden Ausgang ein neues Formular. Für uns laufen beide Kontrollen so ab: Wo wollen Sie hin? Nach Hause. Wo sind Sie zu Hause? In der Schweiz. Gut, fahren Sie, bon courage! Das Dokument wollen sie nicht sehen. Sowieso waren wir uns unsicher, was wir hätten ankreuzen sollen. Roman tippte auf: Unterstützung für Risikopersonen.

Bald sieht man die Schweizer Berge, Genf ist angeschrieben und dann ist der Zoll da. Kann ich bitte einen Ausweis sehen, fragt die Polizistin und ich zücke das rote Büchlein. Das ist gut, sagt er und winkt uns durch. Dann ist alles voller Schweizer Autonummern, von Coop und Migros, aber Französisch reden die Menschen immer noch.

Wir finden eine Wiese im Jura, auf der man offiziell campen darf und verbringen noch eine Nacht unter einem Sternenhimmel, der unberührt davon ist, was auf der Erde vorgeht. Auf der Autobahn ist bald Bern angeschrieben, aber wir halten nicht darauf zu. Das geht im Moment nicht, wir können jetzt nicht einfach nach Bern fahren und tun, als ob das alles ganz normal wäre. Romans Eltern machen uns ein Geschenk: Wir dürfen in ihr Ferienhaus auf dem Beatenberg. So biegen wir nach Bulle rechts ab und Marta kriecht mal im zweiten, mal im dritten Gang auf den Jaun hoch. Ich starre durch die leicht getönte Scheibe auf die schneegefleckte Landschaft und denke: Was für ein schönes Land!

Auf dem Beatenberg sehe ich das kleine Haus mit dem von der Sonne dunkel gewordenen Holz, die Berge vom Eiger bis zum Niesen und dann erst schüttelt es mich so richtig: die raschen Veränderungen der letzten Tage, dass wir FreundInnen und Familie teilweise ein Jahr nicht mehr gesehen haben und demnächst auch nicht live sehen werden, dass wir in eine komplett fremde Schweiz zurückgekehrt sind, dass bisweilen sogar der nächste Tag ungewiss ist und die Bundesräte so ernste Gesichter machen.

Wir brauchen Zeit, um alles einzuordnen, uns bei unseren Lieben zu erkundigen, wie sie zurechtkommen, Freundschaften elektronisch unterstützt wieder aufzunehmen und zu begreifen, dass wir zurück sind. Immerhin können wir uns nicht beklagen, dass wir nach einem Jahr zurückkommen und alles beim Alten ist.

Corona II: Frankreich wacht auf

Am Freitag dem 13. März um Viertel nach drei stehe ich auf dem Place Carnot in Carcassonne und passe auf die Velos auf, Stefanie ist im Carrefour und kauft ein. Knapp anderthalb Kilometer sind es noch zur Jugendherberge in der Cité Médiéval von Carcassonne, einer der best erhaltenen mittelalterlichen Stätten und natürlich Weltkulturerbe. Von daheim hören wir, dass der Bundesrat in einer Viertelstunde über neue Massnahmen informieren will. Ich schaue mich um, einige leicht alkoholisierte Männer sitzen auf den Stufen des Neptunbrunnens, vor den Cafes sitzen Menschen in der Sonne. Nichts wirkt anders als noch vor Weihnachten, als die Menschen die überraschend milden Nachmittage vor Bier und Kaffee draussen verbrachten. Plötzlich spüre ich einen Anflug von Angst: Wird sich alles ändern? Sollten wir nach Hause fahren? Ist jetzt vielleicht nicht mehr der Moment, einen Traum zu Ende zu leben? Geht es jetzt nicht mehr um persönliche Pläne?

Wir schreiben in die Schweiz, an FreundInnen und Familie, wie ist es bei euch, was denkt ihr, tut ihr, wie ist es so. Alle sind verunsichert, nehmen das Ganze mehr oder weniger ernst, wissen aber auch nicht so genau, ob sie überreagieren. Der Bundesrat schliesst die Schulen und wir denken: na gut, das haben wir in Frankreich schon.

Am nächsten Tag besuchen wir den samstäglichen Markt in Carcassonne und wiederum hat sich nichts verändert. Noch immer wird geküsst, nahe beieinander gestanden, wir leben in drei Realitäten, erstens die offizielle aus Frankreich und der Schweiz, zweitens jene, die wir über FreundInnen und Familie aus der Schweiz mitbekommen und drittens den Alltag hier in Frankreich.

Abends um neun kommt der Hammer: Wir sitzen im Aufenthaltsraum und nutzen das Wlan, als der Herbergsleiter uns informiert, Frankreich habe soeben beschlossen, alle nicht-wesentlichen öffentlichen Einrichtungen zu schliessen: Bars, Restaurants, Unterkünfte. Auch die Jugendherberge schliesse um Mitternacht, wir müssten am nächsten Morgen abreisen.

Stefanie befindet sich einen Moment wie auf Glatteis, will in alle Richtungen und kommt doch nicht vom Fleck. Wir telefonieren mit einem befreundeten Paar in der Schweiz. Im Zweifelsfall hole ich euch mit Marta ab, sagt Roman und meint das Bössli. Unklar ist, ob Campingplätze weiter geöffnet haben. Bislang sind wir nämlich der Ansicht, dass wir zwei Risikopersonen auf dem Velo sicherer sind als daheim in der Schweiz. Weniger Kontakt, mehr frische Luft. Das Telefonat mit einem Camping zeigt: er nimmt uns morgen auf jeden Fall auf.

Am nächsten Tag scheint die Sonne, die Vögel pfeifen, die Welt wirkt heil. Zwar schiebt jetzt jede zehnte Partei, die aus dem Supermarkt kommt, ein übervolles Wägeli vor sich hin, mit Dutzenden von Milchflaschen, viel Toilettenpapier und Nahrungsmitteln. Im Camping steht vor dem Tresen ein Abstandshalter, das Personal trägt Handschuhe und desinfiziert ständig Telefonhörer und Türfallen. Auf dem Camping ist viel los, wir fragen uns: warum? Zwei englische Paare sind auf dem Heimweg, die Fähre in Santander fährt nicht mehr, sie wollen nach Calais oder Dünkirchen weiter. Einige Niederländer sind wohl auch auf dem Heimweg, was die vielen Franzosen in ihren Wohnmobilen machen, wissen wir nicht.

Campings, die bereits geöffnet sind, dürfen vorderhand offen bleiben, teilt uns die Frau beim Checkin mit. Mir kommen beinahe die Tränen, die Information erleichtert mich vorübergehend.
Abends telefonieren wir mit Roman. Soll ich sofort abfahren, fragt er. Wir analysieren die politische und emotionale Lage und befinden: morgen früh reicht. Das Vorgehen der umliegenden Länder zeigt, dass Ausgangssperre und Grenzschliessung absehbar sind. Vor allem wenn die Pariser Bevölkerung weiterhin unter dem Bürofenster von Macron tut, als ob nichts wäre.

Ausgangssperre und Grenzschliessung würden unser Fortkommen erschweren. Erstens käme Roman im Notfall nicht mehr nach Frankreich und zweitens wäre unklar, wie die Polizei auf zwei Velofahrerinnen reagieren würde, die von Ort zu Ort fahren. Campings und Unterkünfte sind zunehmend schwieriger zu finden und beim wildzelten ist es noch schwieriger, zwischen sauber und nicht sauber zu trennen, irgendwie berührt sich alles doch immer wieder.

Corona I: Frankreich küsst weiterhin

Der Virus hatte sich in unsere Gedanken geschlichen, plötzlich begann Stefanie mehr Nachrichten und weniger Bücher zu lesen. Als medizinische Fachfrau war der Weg von aktuellen Tatsachen bis zu möglichen Szenarien nicht weit. Nach einigen Tagen musste ich intervenieren und ihr verbieten, ständig die Lage zu checken. Gemäss einem (satirischen) Plakat eines Bundesamtes für Geistige Gesundheit, dass man mehr Hände waschen und weniger Zeitung lesen soll.

Am 10. März machten wir uns endgültig auf in Richtung Schweiz, einen Tag später wurde die Pandemie ausgerufen. Nun zog die allgemeine Situation mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich.

Plötzlich wuschen wir uns bei jeder Gelegenheit die Hände und diskutierten „Hygiene-Ketten“, also wenn ich jetzt saubere Hände habe und dann das anfasse, dann geht das, oder? Oder müsste ich zuerst das öffnen, dann die Hände waschen, oder nochmal anders?

Auf den Campingplätzen ist wenig los, die meisten haben noch gar nicht auf, sorgfältig haben wir uns eine Route zurechtgelegt, damit wir möglichst oft zelten können. Alleine stehen wir mit unserem Zelt auf weiter Flur. Tagsüber unterwegs treffen wir zwar Leute, aber die fahren einfach an uns vorbei, maximal wird gegrüsst. Natürlich müssen wir aber einkaufen und abends irgendwo einchecken.

Die Nachrichten von FreundInnen und Familie aus der Schweiz sind verschieden, manche witzeln übers Bunkern, andere sind stark verunsichert, was man noch darf und was nicht. Die Informationen des Bundesrates sind ähnlich wie die Informationen, die wir von der französischen Regierung hören. Dennoch stellen wir uns den Alltag in der Schweiz aufgrund der Informationen von FreundInnen und Familie drastischer vor als das, was wir hier in Frankreich erleben. Wir sehen nahezu keine Anzeichen, dass es einen Virus gibt. Die Menschen küssen sich weiterhin zur Begrüssung, gehen auf den Markt, drängeln sich an einem vorbei im Supermarkt, fassen Geld, Nahrungsmittel, Handy und manchmal auch ihr Gesicht (Nase, etwas zwischen den Zähnen hervorklauben) mit denselben Händen an – manchmal tragen sie dabei zwar Handschuhe, aber das ändert nichts. Die Schulen sind geschlossen und Veranstaltungen ab 1000 Personen sind abgesagt, aber davon merken wir nichts, weil wir nicht in dem Sinne an der Gesellschaft teilnehmen.

Mit meinen beiden Cousins, die in Reims und Toulouse wohnen, tauschen wir uns hin und wieder aus, bei ihnen klingt es sehr verschieden: sie hören von Leuten, die panisch reagieren und bunkern, die meisten versuchen aber, so normal wie möglich weiterzumachen.

Und wir? Wir ziehen uns ein Stück weit in unsere eigene Quarantäneblase zurück, achten unter Menschen (Supermarkt, Reception, Markt) auf Abstand, waschen uns die Hände, wenn wir können, andernfalls nutzen wir Händedesinfektionsgel. Nur geht das uns langsam aus.

In der Apotheke in Castelnaudary sagt die Apothekerin, es gibt kein Händedesinfektionsgel mehr. Händewaschen sei gerade so gut. Ich erkläre ihr unsere Situation und dass wir immer Gel mitführen würden, auch prä-Corona. Sie holt einen Computerausdruck hervor, sie könne uns die Zutaten verkaufen, damit wir selber Gel mischen könnten. Ich übersetze für Stefanie und schaue sie fragend an: Sie entscheidet in medizinischen Belangen. Sie nickt, warum nicht probieren. Die Frau erklärt uns alles sehr genau, wir fotografieren das Rezept, das übrigens von der WHO abgesegnet ist und tragen die vier Sachen nach Hause: Aloe Vera Gel, Alkohol, Lavendel- und Teebaumöl. Praktischerweise hat Stefanie eine Spritze dabei, so dass wir ziemlich genau abmessen können.