Abschied und Ankommen

Wir haben weiss Gott gelernt, Abschied zu nehmen in diesem Jahr; Abschied von neuen Orten und neuen Bekanntschaften, mit denen die Gespräche bisweilen innert Minuten an Tiefe gewannen, von Plänen, Entscheidungen und Erwartungen. Wir kamen irgendwo an, lebten uns ein, fühlten uns zwei, drei Tage wohl, packten schliesslich unsere Taschen und fuhren weiter. Immer und immer wieder.

Als wir die Tür zu dem kleinen Haus auf dem Beatenberg zuziehen und abschliessen, ist es ein anderer Abschied. Es ist ein endgültiger Abschied von unserer Reise; in wenigen Stunden werden wir nicht mehr auf Reisen sein. Vorbei ist die fahrende Lebensweise, mit der Freiheit hierzubleiben oder weiterzugehen, eine Freiheit, die wir erst finden mussten und von der wir immer öfter bewusst Gebrauch gemacht hatten. Es war unser Jahr, unsere Zeit, unser Geld, es waren unsere Entscheidungen.
Zurück in einer sesshaften Lebensweise, mit weniger Zeit, über die wir frei entscheiden können, fragen wir uns, was bleibt.

Uns bleibt die Erfahrung, Mut und Vertrauen zu haben. Den Mut, etwas zu tun, Job und Wohnung ohne Nachfolge zu kündigen, hinauszuziehen in die Welt mit einem beschränkten Budget und all unseren Sachen in den Saccochen und das Vertrauen, dass es gut kommt. Nicht notwendigerweise, wie wir es uns vorgestellt hatten, aber dass es so, wie es kommt, gut ist. Dass wir Herausforderungen bewältigen, Probleme lösen und schwierige Entscheidungen treffen können. Dass wir grundsätzlich sicher bleiben, verschont von tätlichen Übergriffen und ähnlichen Traumata. Dass wir kein Pech haben werden.

Zurück in einer Schweiz während der Covid-19-Krise half uns diese Erfahrung. Unvorhergesehenes bringt uns weniger aus dem Takt; wir haben viel neu entschieden, uns neu eingerichtet, neu herausgefunden, was wichtig ist. Wir haben viel Liebgewonnenes zurückgelassen, losgelassen. Nicht dass es uns jetzt leicht fällt, nein, aber wir wissen, dass wir es können.

Covid-19 ist ein Test für alle: Wie zufrieden sind wir mit unserem Leben? Ich glaube, je zufriedener wir mit unserem Leben sind, desto leichter fällt es uns, gewisse Einschränkungen hinzunehmen. Wir sind auf jeden Fall sehr dankbar, dass wir unsere Reise nahezu vollständig umsetzen konnten, dass nur die letzten vier bis sechs Wochen durch den neuen Virus tangiert wurden.

Was uns in den ersten Wochen in der Schweiz schwer fiel: dass wir FreundInnen und Familie lange weiterhin nur über den Bildschirm treffen konnten. Das war während der Reise notwendig und nur so möglich; gleichzeitig haben wir erlebt, wo die Grenzen liegen. Dass auch lange Skype-Gespräche nicht das Gegenübersitzen an einem Küchentisch, das Nebeneinanderhergehen bei einem Spaziergang, geschweige denn das Spielen, Vorlesen oder Kochen mit einem Kind ersetzen können.

Auch die Erlebnisse bleiben. Die Begegnungen mit Menschen und Tieren, die Grenzüberschreitungen im geografischen und persönlichen Sinne, die neuen Geschmäcker und Gerüche, die verschiedenen Sprachen, die Landschaften, der schöne Teer und die bisweilen sehr holperigen und mühseligen Strassenbeläge, die drei Meere, die Wälder, die unzähligen Campingplätze und kleinen Hotels, die Airbnbs und natürlich die Warmshowers. Alle die Velofahrerinnen und Velofahrer, die uns überwältigendes Vertrauen entgegenbrachten. Es bleiben die beiden grossen Pausen. Die drei Wochen in Deutschland mit dem Zen-Kurs und dem Aufenthalt in einem Kloster für Katharina, die Tage im Biohotel und der Besuch bei ihren Eltern für Stefanie – der im Rückblick noch wichtiger wird, weil Stefanie ihre Eltern jetzt im Mai nicht besuchen konnte wie angedacht. Die sechs Wochen in der Velle Basse (FR) bescherten uns unzählige gelesene Bücher, viel Holzen und Feuern und eine sechstägige Rundreise mit einem kleinen Auto.

Anfang dieses Jahres haben wir begonnen, uns auf Daheim zu freuen. Uns einzurichten, die Menschen zu sehen, die eigene Küchenausrüstung, nicht mehr ständig improvisieren müssen, das eigene Bett. Jeden Tag wissen, wo wir schlafen, wo wir einkaufen und zu wissen, was es dort gibt, wo wir einkaufen. Endlich Berner Hahnenwasser.

Wir wussten, dass sich an unsere Rückkehr eine Zeit der Eingewöhnung anschliessen würde, dass es dauern würde, bis wir eine Wohnung und ich einen Job finden würden. Stefanie hatte bereits im Februar eine Zusage für Juni. Die aktuelle Situation ist härter als gedacht. Zurückzukommen in ein fremdes Land, die Freundschaften und Familienbeziehungen nicht wie erwartet aufnehmen zu können, hat uns überrumpelt. Ganz zu schweigen von den raschen Entwicklungen in unserer letzten Woche unterwegs. Im Moment tasten wir uns voran, Schritt für Schritt, schauen was geht.

In den allerletzten Velotag unserer Reise starten wir bei dickem Nebel, Sicht ungefähr sieben Meter. Wir rollen auf einer engen Strasse von Beatenberg ins Justistal hinein. Zwei Tunnels, zappenduster drinnen, wir orientieren uns an den Leuchtmarkierungen, die im Licht unserer Lampen reflektieren. Wir fahren langsam, das Ende des Tunnels ist nur als hellere Schattierung von Schwarz erkennbar. Aus dem Schwarz rollen wir hinaus in den Nebel. Aus dem Justistal heraus nach Sigriswil lichtet sich die Suppe, bis in Gunten schliesslich blauer Himmel erkennbar ist.

In Münsingen warten Esther und Hans auf uns und dürfen uns nicht in den Arm nehmen. Dafür kocht schon das Wasser für Tee. Wir rollen der Aare entlang und durch das Köniztal nach Köniz, am Zentrum vorbei und biegen in die Strasse ein, in der meine Eltern wohnen. Wir kommen von Süden her und sind vor gut einem Jahr hier nach Norden losgefahren. Ich stelle mir die ganze Kette vor, grosse Perlen mit den Stationen Köniz – Berlin – Tallinn – Stockholm – Malmö – Frankfurt – Reims – Nantes – Biarritz – Montauban – Toulouse – Béziers – Montpellier – Genf – Beatenberg – Köniz, dazwischen unzählige kleine Perlen, farbige und graue für alle Erlebnisse dazwischen. Es gibt keine Bezeichnung für den Zustand, in dem wir uns befinden. Wir müssen uns re-integrieren, anpassen, auf die Situation einstellen. Und wir müssen das Gefühl verwinden, dass wir uns um etwas beraubt fühlen: Heimkommen und alle in den Arm nehmen.

Gut ist, dass das Reisejahr jetzt wirklich zu Ende ist. In den letzten Monaten war es ruhig, ist zwischendurch kurz aufgeflackert, um durch Covid-19 gleich wieder schlafen gelegt zu werden. Nun ist es vorbei und wir können uns dem nächsten Abenteuer widmen: ein Leben mit festem Wohnsitz und Arbeit. Das hatten wir schon länger nicht mehr.

Corona III: Frankreich ist vorläufig Geschichte

Vive la France, schreibt Roman und wir jubeln: er ist in Frankreich. Für den nächsten Tag verabreden wir uns auf einem Camping, der noch Leute nimmt. Unsere Entscheidung erweist sich als klug, denn während wir noch mit Roman die Einzelheiten absprechen, kommt von seiner Freundin Martina, die uns aus der Schweiz informiert, die Nachricht: Frankreich führt die Ausgangssperre ab morgen zwölf Uhr ein.

Am letzten Velotag in Frankreich fahren wir auf schmalen Pfaden dem Canal du Midi entlang, später direkt am Meer und werden von schönem Wetter verwöhnt. Wir sehen sogar einige Flamingos in flachen Lagunen. Langsam nehmen die Kilometer ab und als schliesslich nur noch fünf übrigbleiben, verabschieden wir uns vom Meer. Ich stecke einen Stein ein und denke, Südfrankreich, wir haben noch eine Rechnung offen.

Langsam pedalen wir in Richtung Roman, oszillieren zwischen der ländlichen Umgebung und der politischen Lage hin und her, die Gefühle sind in der Schwebe und darüber steht die Tatsache, dass es jetzt einfach so ist, wie es ist.

Darf man euch knuddeln, fragt Roman, der in der Türöffnung von Marta sitzt, entspannt und gelassen wie immer. Darüber haben wir eben diskutiert, sage ich und wir knuddeln, schliesslich werden wir die nächsten Tage ohnehin gemeinsam auf ziemlich kleinem Raum verbringen.

Einen guten Freund wieder zu sehen, bedeutet uns viel, der Verzicht auf die Freundschaften war in dem Jahr direkt nach dem Verzicht auf die Gottenkinder das grösste Opfer. Unter den Umständen jetzt ist der direkte Kontakt noch bedeutsamer: wir wissen nicht, wann wir wieder jemanden treffen können oder ob es jetzt einfach mit Skype und Telefon weitergeht.

Drei Tage brauchen wir mit Marta in die Schweiz, die auf der Autobahn am rechten Aussenrand bei 90 km/h schnauft. Allerdings ist in Frankreich seit der Ausgangssperre deutlich weniger los. Wir geniessen die Tage sehr, die voller Gespräche und Sprüche, Lachen und draussen sein, kochen und übers Reisen und Rückkehren reden sind. Eine Nacht verbringen wir hoch über dem Val-d’Isère, wo wir einen traumhaften Platz für unser Zelt finden und wenige Schritte daneben einen akzeptablen Platz für Marta und Roman.

Auf den Strassen wird nun kontrolliert, wer mit dem Auto unterwegs ist, muss ein Formular ausfüllen und mitführen. Für jeden Ausgang ein neues Formular. Für uns laufen beide Kontrollen so ab: Wo wollen Sie hin? Nach Hause. Wo sind Sie zu Hause? In der Schweiz. Gut, fahren Sie, bon courage! Das Dokument wollen sie nicht sehen. Sowieso waren wir uns unsicher, was wir hätten ankreuzen sollen. Roman tippte auf: Unterstützung für Risikopersonen.

Bald sieht man die Schweizer Berge, Genf ist angeschrieben und dann ist der Zoll da. Kann ich bitte einen Ausweis sehen, fragt die Polizistin und ich zücke das rote Büchlein. Das ist gut, sagt er und winkt uns durch. Dann ist alles voller Schweizer Autonummern, von Coop und Migros, aber Französisch reden die Menschen immer noch.

Wir finden eine Wiese im Jura, auf der man offiziell campen darf und verbringen noch eine Nacht unter einem Sternenhimmel, der unberührt davon ist, was auf der Erde vorgeht. Auf der Autobahn ist bald Bern angeschrieben, aber wir halten nicht darauf zu. Das geht im Moment nicht, wir können jetzt nicht einfach nach Bern fahren und tun, als ob das alles ganz normal wäre. Romans Eltern machen uns ein Geschenk: Wir dürfen in ihr Ferienhaus auf dem Beatenberg. So biegen wir nach Bulle rechts ab und Marta kriecht mal im zweiten, mal im dritten Gang auf den Jaun hoch. Ich starre durch die leicht getönte Scheibe auf die schneegefleckte Landschaft und denke: Was für ein schönes Land!

Auf dem Beatenberg sehe ich das kleine Haus mit dem von der Sonne dunkel gewordenen Holz, die Berge vom Eiger bis zum Niesen und dann erst schüttelt es mich so richtig: die raschen Veränderungen der letzten Tage, dass wir FreundInnen und Familie teilweise ein Jahr nicht mehr gesehen haben und demnächst auch nicht live sehen werden, dass wir in eine komplett fremde Schweiz zurückgekehrt sind, dass bisweilen sogar der nächste Tag ungewiss ist und die Bundesräte so ernste Gesichter machen.

Wir brauchen Zeit, um alles einzuordnen, uns bei unseren Lieben zu erkundigen, wie sie zurechtkommen, Freundschaften elektronisch unterstützt wieder aufzunehmen und zu begreifen, dass wir zurück sind. Immerhin können wir uns nicht beklagen, dass wir nach einem Jahr zurückkommen und alles beim Alten ist.

Corona II: Frankreich wacht auf

Am Freitag dem 13. März um Viertel nach drei stehe ich auf dem Place Carnot in Carcassonne und passe auf die Velos auf, Stefanie ist im Carrefour und kauft ein. Knapp anderthalb Kilometer sind es noch zur Jugendherberge in der Cité Médiéval von Carcassonne, einer der best erhaltenen mittelalterlichen Stätten und natürlich Weltkulturerbe. Von daheim hören wir, dass der Bundesrat in einer Viertelstunde über neue Massnahmen informieren will. Ich schaue mich um, einige leicht alkoholisierte Männer sitzen auf den Stufen des Neptunbrunnens, vor den Cafes sitzen Menschen in der Sonne. Nichts wirkt anders als noch vor Weihnachten, als die Menschen die überraschend milden Nachmittage vor Bier und Kaffee draussen verbrachten. Plötzlich spüre ich einen Anflug von Angst: Wird sich alles ändern? Sollten wir nach Hause fahren? Ist jetzt vielleicht nicht mehr der Moment, einen Traum zu Ende zu leben? Geht es jetzt nicht mehr um persönliche Pläne?

Wir schreiben in die Schweiz, an FreundInnen und Familie, wie ist es bei euch, was denkt ihr, tut ihr, wie ist es so. Alle sind verunsichert, nehmen das Ganze mehr oder weniger ernst, wissen aber auch nicht so genau, ob sie überreagieren. Der Bundesrat schliesst die Schulen und wir denken: na gut, das haben wir in Frankreich schon.

Am nächsten Tag besuchen wir den samstäglichen Markt in Carcassonne und wiederum hat sich nichts verändert. Noch immer wird geküsst, nahe beieinander gestanden, wir leben in drei Realitäten, erstens die offizielle aus Frankreich und der Schweiz, zweitens jene, die wir über FreundInnen und Familie aus der Schweiz mitbekommen und drittens den Alltag hier in Frankreich.

Abends um neun kommt der Hammer: Wir sitzen im Aufenthaltsraum und nutzen das Wlan, als der Herbergsleiter uns informiert, Frankreich habe soeben beschlossen, alle nicht-wesentlichen öffentlichen Einrichtungen zu schliessen: Bars, Restaurants, Unterkünfte. Auch die Jugendherberge schliesse um Mitternacht, wir müssten am nächsten Morgen abreisen.

Stefanie befindet sich einen Moment wie auf Glatteis, will in alle Richtungen und kommt doch nicht vom Fleck. Wir telefonieren mit einem befreundeten Paar in der Schweiz. Im Zweifelsfall hole ich euch mit Marta ab, sagt Roman und meint das Bössli. Unklar ist, ob Campingplätze weiter geöffnet haben. Bislang sind wir nämlich der Ansicht, dass wir zwei Risikopersonen auf dem Velo sicherer sind als daheim in der Schweiz. Weniger Kontakt, mehr frische Luft. Das Telefonat mit einem Camping zeigt: er nimmt uns morgen auf jeden Fall auf.

Am nächsten Tag scheint die Sonne, die Vögel pfeifen, die Welt wirkt heil. Zwar schiebt jetzt jede zehnte Partei, die aus dem Supermarkt kommt, ein übervolles Wägeli vor sich hin, mit Dutzenden von Milchflaschen, viel Toilettenpapier und Nahrungsmitteln. Im Camping steht vor dem Tresen ein Abstandshalter, das Personal trägt Handschuhe und desinfiziert ständig Telefonhörer und Türfallen. Auf dem Camping ist viel los, wir fragen uns: warum? Zwei englische Paare sind auf dem Heimweg, die Fähre in Santander fährt nicht mehr, sie wollen nach Calais oder Dünkirchen weiter. Einige Niederländer sind wohl auch auf dem Heimweg, was die vielen Franzosen in ihren Wohnmobilen machen, wissen wir nicht.

Campings, die bereits geöffnet sind, dürfen vorderhand offen bleiben, teilt uns die Frau beim Checkin mit. Mir kommen beinahe die Tränen, die Information erleichtert mich vorübergehend.
Abends telefonieren wir mit Roman. Soll ich sofort abfahren, fragt er. Wir analysieren die politische und emotionale Lage und befinden: morgen früh reicht. Das Vorgehen der umliegenden Länder zeigt, dass Ausgangssperre und Grenzschliessung absehbar sind. Vor allem wenn die Pariser Bevölkerung weiterhin unter dem Bürofenster von Macron tut, als ob nichts wäre.

Ausgangssperre und Grenzschliessung würden unser Fortkommen erschweren. Erstens käme Roman im Notfall nicht mehr nach Frankreich und zweitens wäre unklar, wie die Polizei auf zwei Velofahrerinnen reagieren würde, die von Ort zu Ort fahren. Campings und Unterkünfte sind zunehmend schwieriger zu finden und beim wildzelten ist es noch schwieriger, zwischen sauber und nicht sauber zu trennen, irgendwie berührt sich alles doch immer wieder.

Corona I: Frankreich küsst weiterhin

Der Virus hatte sich in unsere Gedanken geschlichen, plötzlich begann Stefanie mehr Nachrichten und weniger Bücher zu lesen. Als medizinische Fachfrau war der Weg von aktuellen Tatsachen bis zu möglichen Szenarien nicht weit. Nach einigen Tagen musste ich intervenieren und ihr verbieten, ständig die Lage zu checken. Gemäss einem (satirischen) Plakat eines Bundesamtes für Geistige Gesundheit, dass man mehr Hände waschen und weniger Zeitung lesen soll.

Am 10. März machten wir uns endgültig auf in Richtung Schweiz, einen Tag später wurde die Pandemie ausgerufen. Nun zog die allgemeine Situation mehr und mehr Aufmerksamkeit auf sich.

Plötzlich wuschen wir uns bei jeder Gelegenheit die Hände und diskutierten „Hygiene-Ketten“, also wenn ich jetzt saubere Hände habe und dann das anfasse, dann geht das, oder? Oder müsste ich zuerst das öffnen, dann die Hände waschen, oder nochmal anders?

Auf den Campingplätzen ist wenig los, die meisten haben noch gar nicht auf, sorgfältig haben wir uns eine Route zurechtgelegt, damit wir möglichst oft zelten können. Alleine stehen wir mit unserem Zelt auf weiter Flur. Tagsüber unterwegs treffen wir zwar Leute, aber die fahren einfach an uns vorbei, maximal wird gegrüsst. Natürlich müssen wir aber einkaufen und abends irgendwo einchecken.

Die Nachrichten von FreundInnen und Familie aus der Schweiz sind verschieden, manche witzeln übers Bunkern, andere sind stark verunsichert, was man noch darf und was nicht. Die Informationen des Bundesrates sind ähnlich wie die Informationen, die wir von der französischen Regierung hören. Dennoch stellen wir uns den Alltag in der Schweiz aufgrund der Informationen von FreundInnen und Familie drastischer vor als das, was wir hier in Frankreich erleben. Wir sehen nahezu keine Anzeichen, dass es einen Virus gibt. Die Menschen küssen sich weiterhin zur Begrüssung, gehen auf den Markt, drängeln sich an einem vorbei im Supermarkt, fassen Geld, Nahrungsmittel, Handy und manchmal auch ihr Gesicht (Nase, etwas zwischen den Zähnen hervorklauben) mit denselben Händen an – manchmal tragen sie dabei zwar Handschuhe, aber das ändert nichts. Die Schulen sind geschlossen und Veranstaltungen ab 1000 Personen sind abgesagt, aber davon merken wir nichts, weil wir nicht in dem Sinne an der Gesellschaft teilnehmen.

Mit meinen beiden Cousins, die in Reims und Toulouse wohnen, tauschen wir uns hin und wieder aus, bei ihnen klingt es sehr verschieden: sie hören von Leuten, die panisch reagieren und bunkern, die meisten versuchen aber, so normal wie möglich weiterzumachen.

Und wir? Wir ziehen uns ein Stück weit in unsere eigene Quarantäneblase zurück, achten unter Menschen (Supermarkt, Reception, Markt) auf Abstand, waschen uns die Hände, wenn wir können, andernfalls nutzen wir Händedesinfektionsgel. Nur geht das uns langsam aus.

In der Apotheke in Castelnaudary sagt die Apothekerin, es gibt kein Händedesinfektionsgel mehr. Händewaschen sei gerade so gut. Ich erkläre ihr unsere Situation und dass wir immer Gel mitführen würden, auch prä-Corona. Sie holt einen Computerausdruck hervor, sie könne uns die Zutaten verkaufen, damit wir selber Gel mischen könnten. Ich übersetze für Stefanie und schaue sie fragend an: Sie entscheidet in medizinischen Belangen. Sie nickt, warum nicht probieren. Die Frau erklärt uns alles sehr genau, wir fotografieren das Rezept, das übrigens von der WHO abgesegnet ist und tragen die vier Sachen nach Hause: Aloe Vera Gel, Alkohol, Lavendel- und Teebaumöl. Praktischerweise hat Stefanie eine Spritze dabei, so dass wir ziemlich genau abmessen können.

Ungebetener Gast

„Du“, weckt mich Stefanie mitten in der Nacht im Büro, wo ich bei ungefähr 12 Grad herrlich schlafe. „Bei mir im Zimmer ist eine Ratte.“ Obwohl aus dem Tiefschlaf gerissen, bin ich sofort wach. Eine Ratte!

Stefanie schläft im „Ofenzimmer“, wo wir uns auch tagsüber aufhalten. Als wir uns auf ihren Bettrand setzen, knackt der erkaltete Ofen hin und wieder, sonst ist nichts zu hören. Wir suchen im Lichtstrahl unserer Stirnlampen das Zimmer ab, wo ist die Ratte? Schliesslich bemerken wir in der Nähe des grossen Schrankes ein zehn Zentimeter grosses Loch, das ins Büro hinüberführt. Neben den zwei dünnen Leitungen hat da bestimmt auch eine Ratte Platz.

„Ich habe letzte Nacht etwas bei mir auf dem Schrank gehört“, erinnere ich mich plötzlich, denn im Büro steht ebenfalls ein hoher Schrank. Wir schauen uns an, was sollen wir tun?

Eine Weile legen wir uns im Ofenzimmer hin, aber als die Ratte auf dem Schrank im Ofenzimmer schabt und knabbert, wechseln wir ins Büro. Schlafen können wir nicht. Wir hatten schon Mäuse im Zelt, aber diese waren nicht im Innenzelt, nicht genau da, wo wir schliefen. Wo ist die Ratte?

Nun knabbert die Ratte auf dem Schrank im Büro. Eine Weile lauschen wir dem Geräusch, wir wissen immerhin, wo sie ist. Wenige Minuten später schrecke ich auf, das Geräusch hat sich verändert, ich höre winzige Füsse auf dem Bode und richte den Strahl der Stirnlampe in die Richtung. Die Ratte rennt an den Stromkabeln neben dem Schrank die Wand hoch. In mir steigt unbekanntes Grausen auf. Dreissig Zentimeter vor der Decke verliert sie den Halt und fällt hinunter auf den Boden. Etwas will mich schütteln. Sie flieht am Boden hinter das Kajütenbett in der Ecke.

Wir wechseln wieder ins Ofenzimmer und liegen wach; erst als es lang und länger still bleibt, schlafen wir ein.

Als mein Cousin Daniel, der uns besucht, am Morgen von seinem Zimmer im oberen Stock herunterkommt, sage ich, ich hätte eine schlechte Nachricht. Ah bon? Ja, wir haben eine Ratte.

Offenbar war das grundsätzlich bekannt, allerdings wurde sie bis jetzt nur im Stall gesichtet. Wir stellen Fallen auf, eine im Ofenzimmer, eine im Büro.

Durch den Tag schiesst mir immer wieder die Erinnerung durch den Kopf, das Geräusch der kleinen Füsse auf dem Boden, der schwarze Blitz im schwachen Licht die Wand hoch, das Herunterfallen, etwas in mir reagiert darauf, etwas, was älter ist als ich, was uralt ist.

Als wir am Abend vor dem Feuer sitzen und lesen, will keine von uns ins Bett. Seite um Seite nehmen wir noch mit, ungewiss, was die Nacht bringen könnte. Da, ein Kratzen in der Ecke zwischen Ofen und Wand, wir schiessen beide auf, richten den stärksten Strahl unserer Lampen auf ein Fünfzentimeterloch in der Decke, ein direktes Loch in den Estrich.

Fast ohne zu reden sind wir ein Team. Während Stefanie die Lampe auf das Loch richtet, hole ich die Leiter, ein Stück Holz, krame im Schrank nach Nagel und Hammer, finde einen Akkuschrauber und Schrauben. Wir räumen die Ecke frei, stellen die Leiter auf. In der Hoffnung, dass sich die Ratte vom Licht abhalten lässt, steige ich langsam die Leiter hoch, das Brett in der Hand. Ich zwinge das Grausen nieder, unkontrolliertes Schütteln ist jetzt nicht gefragt. Noch eine Sprosse. Stefanies Lampe und meine vereinen sich im Loch, dahinter bleibt es dunkel, kein Geräusch ist zu hören. Noch eine Sprosse. Mit jedem Tritt rückt mein Gesicht näher an das Loch und an das Ungewisse dahinter. Ich recke den Kopf, damit die Stirnlampe immer noch auf das Loch zeigt, das Brett darf erst im letzten Moment dazwischenkommen.

In einer einzigen Bewegung steige ich noch eine Sprosse hoch, hebe den Arm, atme alle Regungen weg und drücke das Brett auf das Loch. Mit zitternden Händen drehe ich die ersten Schrauben hinein, aber das Holz ist hart und der Akkuschrauber schwach. „Liegt da nicht noch eine Bohrmaschine?“ fragt Stefanie. Ich haste in den Stall. Bald ist das passende Bit aufgesetzt, mit vertrauenerweckendem Surren dreht Stefanie die Schrauben bis zum Anschlag ein. Die entstandenen Ritzen dichten wir mit Feuerholz ab, widerstehen aber dem Drang, noch mindestens siebenundzwanzig andere Bretter davorzuschrauben, um ganz, ganz sicher zu sein.

In der nächsten Nacht wetzen die Füsschen direkt über dem Bett hin und her, nur ein einfacher Bretterboden trennt uns. Wieder scheint in mir etwas aufzutauchen, was ich nicht meiner eigenen Lebenserfahrung zuordnen kann. Vielleicht hat sich die Angst vor Ratten in epigenetischer Manier über unsere Vorfahren in uns eingeschrieben, sie, die täglich Ratten begegnet waren, mit ihnen einen Teil der Menschheitsgeschichte erlebt hatten und die Ratten nicht als solche fürchteten, sondern darum, was sie mit sich brachten.

Als wir im Estrich eine Falle aufstellen, ist Ruhe. Vermutlich fand die Ratte das Klima nicht mehr so zuträglich und ist ausgezogen.

In uns entspannt sich etwas, wenn es sich auch nicht komplett entspannt. Zumindest ist das nächstgrausigere Bild vorläufig aus meinem Kopf verschwunden. Was, wenn die Ratte in die Falle gegangen, davon aber nicht getötet worden wäre?

Molières

Das Sommerhaus in der Velle Basse zwanzig Kilometer nördlich von Montauban und drei Kilometer südlich von Molières erreichen wir mit dem Taxi – wir beide wurden bei Warmshowers in Auch krank: irgendetwas mit Magen und Darm und Fieber, Stefanie wurde 30 Stunden niedergestreckt, ich etwas weniger.

Das Sommerhaus haben meine Tante und meine Cousins aus der Familie ihres Mannes/Vaters geerbt, der nach der Scheidung bis zu seinem Tod vor einigen Jahren in Montauban gewohnt hatte. Es ist ein helles, breites Haus, das quer zur Strasse zwischen zwei Grünflächen liegt. In der direkten Umgebung liegt nur noch der Gemüsebaubetrieb von Claude.

Ich war schon zweimal hier, 2009 im Sommer: am Morgen noch im Pyjama durch den Garten streunen und Früchte direkt vom Baum essen, in der Sonne sitzen, Aperitif trinken, Baden im nahen See, auf dem Markt im reichen Angebot von Früchten und Gemüsen schwelgen. Knapp zwei Jahre später kam ich mit meiner Tante Elisabeth alleine her, Anfang März. Als wir ankamen, betrug die Temperatur im Haus 5°C. Wir feuerten jeden Morgen alles an, was möglich war, steckten den Kühlschrank wieder aus und schnitten im Garten die Obstbäume. Dazwischen fuhren wir zur Entsorgung, kauften eine elektrische Motorsäge und besuchten Bekannte von Elisabeth. Ende Woche betrug die Temperatur im Haus 12°C.

Inzwischen hat sich einiges verändert. Aus dem Schlafzimmer mit drei oder vier Betten ist ein Büro mit Klappsofa und Kajütenbett geworden, die Dusche ist aus der Küche in ein richtiges Bad im Stall gewandert. Dort gibt es auch ein Klo, das Plumpsklo in Richtung Garten ist verschwunden. In „Elisabeths Zimmer“ gibt es einen modernen Holzofen.

Nach einigen Tagen haben wir uns recht gut eingelebt. Ich schlafe mittlerweile im Büro, denn das Bett im „Ofenzimmer“ ist etwas schmal – die üblichen 1m30, das französische Doppelbett. Das ist hier die normale Doppelbett-Grösse; eine Warmshower-Gastgeberin hat uns erzählt, ihre Eltern hätten sich erst neulich ein 1m60-Bett gekauft – wie viele Menschen auf das Alter hin. Im Büro beträgt die Temperatur rund 10 Grad, was mit dem Schlafsack allerdings kein Problem ist und etwas Zelt-Feeling bringt.

Morgens anfeuern mit unseren Wedele, von denen wir jeden Tag zehn aus einem Haufen Kleinholz, Ästchen, Brombeerranken und Baumschnitt anfertigen, der in der kleinen, wackeligen Scheune in der Ecke liegt. Schliesslich Holz holen und in der kalten Küche Frühstück machen. Meistens ist dann schon Mittag.

Am Nachmittag machen wir besagte Wedele, rechen Laub, sägen Holz. In Montauban waren wir in einem trotz aller Gewöhnung immer noch überwältigenden Supermarkt und im drei Kilometer entfernten Molières im Spar. Zur Verfügung steht uns ein „Franzosen-Kistli“, ein kleiner Peugeot ohne Servolenkung. Wie beim Velofahren arbeitet man auch hier für die Strecke.

Wir profitieren von der grossen Bibliothek, sitzen vor dem Ofen, legen ständig Holz nach, denn der Ofen wärmt nur so. Zwanzig Grad bringen wir damit hin – was schon wärmer ist als in vielen französischen Häusern. Der Raum erkaltet aber schnell wieder, die Lücken zwischen Tür und Angel sorgen dafür. Wir tauschen uns über die Bücher aus, die wir lesen, schreiben, holen wieder Holz. Dazwischen machen wir aus dem Gemüse, das wir bei Claude beziehen, Suppe. Sobald die Sonne herauskommt, lassen wir den Ofen ausgehen und setzen uns in die Sonne. Dann ist es nämlich draussen schnell wärmer als im kalten Büro oder in der Küche.

Auf der Strasse fährt hin und wieder ein Auto vorbei oder auch Rennvelofahrer, die manchmal grüssend die Hand heben, wenn wir ihnen über die Ränder unserer Teetassen nachblicken. Die Feuerwehr war auch schon da, sie hat uns Neujahrsgrüsse überbracht und Spenden gesammelt. Zehn Euro haben sie augenscheinlich schockiert. Die Post hat ein Päckli aus der Schweiz gebracht, morgens um neun hat sie vor dem Haus gehupt. Ich schoss aus dem Schlaf auf, das ist die Post!, streifte den Schlafsack herunter, hastete in Jacke und Finken und zur Tür hinaus. Über die Holzgittertür des Vorplatzes rufe ich: Ich komme, haste zurück, schliesse auf, im kleinen Postauto wird der Motor angelassen. Als ich begreife, dass die Person nicht aussteigen wird, haste ich wieder zurück, um die Schuhe anzuziehen. So geht das hier.

Kalt in Frankreich

In Frankreich ist es kalt. In den Häusern. Bei ganz normalen Leuten daheim. Ob privat oder Chambre d’hôte, die Zimmertemperatur überschreitet selten 19 Grad. Bei zwei Warmshowers daheim froren wir nachts unter den Duvets – die Temperatur betrug 14 Grad, wir zogen Mützen auf.

Viele Häuser sind nicht richtig isoliert, die Aussenwände verströmen Eiseskälte. Meist unter dem Fenster klebt ein schmaler Radiator an der Wand, brütendheiss, wenn man ihn versehentlich berührt, er wärmt aber maximal in einem Umkreis von dreissig Zentimetern.

Im Bad gibt es entweder eine „Sèche-Serviette“, einen beheizten Handtuchhalter, der aber ebenfalls nur in besagtem 30-cm-Umkreis wärmt. Oder in einer Ecke steht ein kleiner, eiförmiger Elektroofen, den man fünf bis zehn Minuten vor dem Duschen anwirft. Häufig bläst er einem aber vor allem warme Luft an die Beine.

Wir haben die Schlafsäcke dabei und nutzen sie immer öfter. Nicht nur, wenn es kalt ist, sondern auch, wenn wir unter der Tagesdecke wieder einmal eine Wolldecken-Leintuch-Kombi oder gar eine Zwei-Leintuch-Duvet-Kombi entdecken. Letzteres ist besonders mühselig: Das Duvet ist zwischen zwei Leintücher geklemmt und rutscht seitlich immer raus. Es scheint eine seltsame Form von Duvet-Bezug zu sein.

Dass es in Afrika oder Asien anders ist als bei uns, erstaunt niemanden. Dass allerdings in einem Nachbarland der Schweiz wesentliche Dinge des Alltags ziemlich ungemütlich sein können, erstaunt uns immer wieder. Wir sind mit den Schlafsäcken und Daunenjacken gut ausgerüstet – ich will mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man mit „normaler“ Ausrüstung in Frankreich eine Winterreise macht. Aber was mich am allermeisten erstaunt: Auf dem Klo verrenkt man sich nach erledigtem Geschäft nach links und rechts, um irgendwo eine Toilettenrolle zu ergattern. Toilettenrollenhalter haben es offenbar noch nicht bis hierhin geschafft.

Velofahren im Winter*

Am 9. Januar übersteigen die Temperaturen nach dem Mittag 16°C in dem Masse, dass wir anfangen, Schichten abzulegen. Bei Stefanie fallen die Zippärmel, bei beiden die Hüftwärmer und die Schulterwärmer. Später auch noch die wasserdichten Übersocken.

Ein warmer Tag macht natürlich noch keinen Frühling. Von den letzten sieben Fahrtagen waren die ersten beiden Tage warm (12-15°C), der dritte deutlich kühler (2-8°C), der vierte und fünfte wirklich kalt (0-4°C), der fünfte brachte Sonne und Temperaturen um die 16°C und der siebte, wie gesagt, 17°C und mehr.

Wir nehmen dies zum Anlass, einen Blick auf unsere Winterausrüstung zu werfen. Als wir Anfang November nach unserer einmonatigen Pause in Frankfurt wieder starteten, hatten wir einige Neuzugänge dabei.

Bei der Kleidung sind dies die Hüftwärmer und die wasserdichten Socken. Bereits dabei hatten wir Winterbuffs (mit Faserpelz), die dicken Handschuhe, Mützen.

Die Hüftwärmer sind Schläuche aus elastischem Stoff, die um die Hüfte getragen werden. Sie verstärken den Übergang zwischen Hose und Oberteil und gewährleisten so, dass es nirgends „reinzieht“. Stefanie trägt den Hüftwärmer über Velohose und Windstopperjäggli, Katharina über Velohose und langärmligem Oberteil unter dem Windstopper. Die Erfahrungen sind grundsätzlich gut: die Hüftwärmer wärmen, sie halten alles schön dicht, sind leicht, tragen nicht auf, engen nicht ein. Einen negativen Punkt gibt es dennoch: Wenn man sie zu weit unten trägt, rollen sie sich ein, und es fühlt sich an, als hätte man sich eine dicke Schnur um die Hüfte gewickelt.

Die wasserdichten Socken sind von der Marke Sealskinz. Bei der Recherche schien dies die einzige Marke mit ernstzunehmenden wasserdichten Socken zu sein. Neulich trug ich sie während einer Stunde Dauerregen und sie haben soweit dichtgehalten. Stefanie hat vor längerer Zeit abends erstaunt festgestellt, dass ihre Schuhe total durchnässt waren – die Wollsocken unter den wasserdichten Socken jedoch trocken.
Die Idee ist, dass diese Socken unsere Füsse auf jeden Fall trocken und möglichst warm halten sollen. Bei starken Regenfällen tragen wir nach wie vor Gamaschen. Bei kurzen Regengüssen, bei Niesel und bei einem Regenbruch kurz vor dem Ziel sind wir damit aber flexibler. Sie fühlen sich am Fuss gut an, auch wenn keine normalen Socken darunter getragen werden, sind soweit pflegeleicht, können normal in der Waschmaschine gewaschen werden. Allerdings achten wir darauf, sie nicht zu häufig zu waschen, da wir davon ausgehen, dass sich die Wasserfestigkeit mit der Zeit verliert.

Nach den ersten Tagen im November, als wir uns erst mit den neuen Temperaturen auseinandersetzen mussten – wir hatten ja den Abstieg nicht wirklich mitbekommen, da wir uns fast einen Monat mehrheitlich drinnen aufhielten – wechselten wir von den kurzärmligen Merinoshirts, die wir unter den Windstoppern tragen, zu langärmeligen mit kleinem Kragen und Reissverschluss bis auf Brusthöhe. Dazu kamen die Schulterwärmer (ein Rollkragen mit Lappen hinten und vorne), die Hüftwärmer, darüber der Windstopper und die Regenjacke. An den Beinen wie immer Velohose und Windstopper-Softshell, hier hat sich den ganzen Winter über nichts geändert (ausser natürlich der Regenhose hin und wieder). An den Füssen zuerst nur die wasserdichten Socken, mit der Zeit fingen wir an, Merinosocken darunter zu tragen.

Bei Temperaturen ab ca. 6°C tragen wir einen normalen Buff, Stefanie einen zweiten Buff auf dem Kopf, ich ein Stirnband, dazu wahlweise die dicken Handschuhe. Die Regenjacke wird irgendwann nach 12°C und Sonne ausgezogen. Allerdings ist die Temperaturangabe häufig anders als die gefühlte Temperatur. Gerade 12°C können kühl oder warm empfunden werden, haben wir bemerkt.

Bei Temperaturen unter 5°C wechseln wir häufig auf den Winterbuff und ich auf die Mütze. Dass Stefanie auf die Mütze wechselt, dauert länger. Aufgefallen ist uns, dass wir am 9. Januar zum ersten Mal den Helmregenschutz entfernt haben, seit wir ihn in der ersten Novemberhälfte montiert haben. Er leuchtet schön in nebligen Verhältnissen und hält den Wind ab.

Was uns ausserdem noch durch den Winter geholfen hat, ist die Thermoskanne. Morgens machen wir frischen, heissen Tee, den wir in „Teepausen“ schlürfen. Zwar sind es nur 0.75l, aber erstens wärmt die heisse Flüssigkeit und zweitens trinken wir somit wenigstens ein bisschen etwas. Wenn das Wasser in den Flaschen nämlich gegen 4°C kalt ist, verringert sich auch automatisch der Durst. Was nicht unheikel ist: im Winter denkt man automatisch weniger ans Trinken, weil weniger klassischer Durst auftritt. Ergo trinken wir zu wenig.

Nach den ersten paar Picknicks, bei denen wir beim Brote streichen herumhampelten, um die Zehen warm zu behalten (oder zu bekommen), haben wir angefangen, morgens Sandwichs zu machen. Sie ermöglichen uns, am Mittag einfach irgendwo hinzustehen und direkt mit Essen anzufangen, das geht gut auch mit Handschuhen. Allerdings freuen wir uns schon wieder darauf, wenn wir morgens nicht noch Sandwichs streichen müssen…

Insgesamt kommen wir gut durch die kalte Jahreszeit hier in Frankreich. Zwar haben wir den Eindruck, dass es Tage gibt, an denen unsere Körper wirklich lieber drinnen bleiben und Tee trinken und lesen würden, aber meistens haben wir keine Probleme, in die Gänge zu kommen. Da uns am wärmsten ist, wenn wir fahren, machen wir nur kurze Pausen. Das wirkt sich manchmal auf die Motivation aus. Kaffee trinken um uns aufzuwärmen waren wir aber nur selten, einerseits aus Budgetgründen, andererseits aber auch, weil es hier nur selten Kaffees gibt.

Bei Regen sind wir froh um einen Unterstand (oder einen netten Schreiner, der uns in seine Küche einlädt!), bei Wind um einen Windschutz, bei Sonne natürlich um ein Plätzchen an der Sonne. Die Tatsache, dass wir uns in diesen Monaten gegen das Zelten entschieden haben, macht uns für Regen, Wind und Kälte viel weniger anfällig, da wir abends heiss duschen und unsere Sachen trocknen können.

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Eine Weihnachtsgeschichte

Seit einer Stunde regnet es, in langen, grauen Fäden schiesst das Wasser vom Himmel, rinnt über unsere Helme, Gesichter, nässt Regenklamotten nach und nach durch. Die kleine Landstrasse führt schnurgerade durch Weiden, in denen das Wasser schon steht, und irgendwo links von uns ist die Loire, dieser breite Fluss, der viel Wasser führt im Moment – erst neulich war der Veloweg wieder einmal überschwemmt.

Sechs Kilometer sind es noch ins nächste Dorf, wir hoffen auf eine gedeckte Bushaltestelle – unzählige Mittagessen haben wir schon so verbracht. Ich bemühe mich, den Kopf nicht zu fest zu drehen, wenn ich im Rückspiegel schaue, ob Stefanie noch da ist, denn wenn ich den Kopf drehe, läuft mir Wasser vom Helm übers Gesicht – immerhin nicht in den Kragen. Stefanie ist noch da und neben ihr ein Auto, ein Lieferwagen, sie gestikuliert etwas und ich höre: She speaks French (sie spricht Französisch). Also bemühe ich mich um einen klaren Kurs, als das Auto zu mir vorfährt und halte an. Im Gegenlicht erkenne ich im Führerhaus eine männliche Silhouette, die fragt, wollt ihr einen Unterstand. Ich erscheine etwas begriffsstutzig, daher hakt er nach, eine Garage, wollt ihr eine Garage. Ja schon, sage ich, aber wo? Na, bei mir, nicht weit. Hier schiesst der Überlebenstrieb der Velofahrerin ein: Was heisst „nicht weit“? Gleich um die Ecke, folgt mir.

Da wir wirklich gerne in einer Garage unser Zmittag essen würden, fahren wir dem langsam dahinrollenden Lieferwagen hinterher, linksrum, rechtsrum, wo ist diese Garage genau, will Stefanie wissen. Um die Ecke, hat er gesagt, erwidere ich und hoffe, dass sie wirklich bald kommt. Wir stecken mitten in einem lange Tag und möchten nicht unnötig Kilometer hinzufügen. Tatsächlich blinkt der Wagen nach ungefähr einem Kilometer und in der Gartenmauer schiebt sich ein Tor auf. Die „Garage“ entpuppt sich als Küche, die komplett aus Glas aussen ans Haus angebaut wurde. Das hat er selber gemacht, der Mann ist nämlich Schreiner, wie er uns erklärt. Wir sollen die nassen Sachen ablegen und absitzen, ob wir Kaffee wollten. Wir wollen – und schlagen die Zähne in unsere Sandwiches. (Als es kälter und nässer wurde haben wir begonnen, am Morgen Sandwiches vorzubereiten: es isst sich leichter und schneller).

Der Schreiner – wir vergessen leider, ihn nach seinem Namen zu fragen – wird bald pensioniert, hat fünf Grosskinder, die er uns am Tablet zeigt, hat heute nur ein bisschen Büroarbeit vor sich, er sei selbständig. Als wir ihm von unserer Reise erzählen, schüttelt er immer wieder den Kopf, er scheint es kaum glauben zu können. Er habe uns gesehen und gedacht, da müsse man einfach Mitleid haben. Ich erzähle ihm, dass wir auf eine Bushaltestelle gehofft hätten. Ist das nicht besser als eine Bushaltestelle, fragt er und umfasst mit einer Armbewegung die Küche mit dem Glitzerzeug am Boden (die Grosskinder waren gestern da), das Geräusch des durchlaufenden Kaffees und die Velos, die draussen weiterhin eingeregnet werden. Ja, viel, viel besser.

Ich bekomme eine Hausführung, er erzählt, im Winter mache er Körbe und seine Frau stricke, so würden sie die Tage zubringen. Er tischt Honig von seinen Bienen auf und füllt uns ein kleines Glas ab, schliesslich probieren wir auch noch den Quittengelee, der wirklich sehr gut ist – den Schnaps lehnen wir ab, auch wenn er von seinem Vater stammt, der leider gestorben sei. Der Mann freut sich sichtlich, dass er Gesellschaft gefunden hat.

Dass wir heute noch dreissig Kilometer vor uns haben, beeindruckt ihn sichtlich. Sie seien auch schon an der Loire Rad gefahren, er und seine Frau, aber nur etwa zwanzig Kilometer am Tag. Geschwindigkeit: 5-6 Stundenkilometer. Daran habe ich nun meine Zweifel, denn in der Ebene so langsam zu fahren, ist schwierig.

Als wir unsere nassen Velosachen wieder anziehen, die klammen Handschuhe überstreifen, in den Regen hinausgehen, aufsteigen und weiterfahren, ist uns – wie es sich für eine Weihnachtsgeschichte gehört – etwas fröhlicher zumute.

Eine Entscheidung

In Reims am Bahnhof verwirft die Mitarbeiterin der französischen Bahn die Arme: Mit unzerlegten Velos kommen Sie mit dem Zug nicht nach Spanien! Wir diskutieren hin und her, sie berät sich mit ihrer Kollegin, wir haben zum Glück vorrecherchiert: schliesslich bekommen wir Tickets für uns und unsere Velos bis nach Toulouse. Dort sollen wir uns wieder informieren, die KollegInnen im Süden wüssten besser Bescheid, was die Linien nach Spanien anbelangt. Der Plan: Wir schlagen uns mit dem Zug bis nach Valencia durch und fahren ab da in Richtung Portugal.

Drei Tage später sind wir unterwegs nach Melun, als Stefanie plötzlich am Strassenrand anhält: Du, ich muss dir was sagen! Wollen wir wirklich nach Spanien fahren? Ich lasse die Information durch mein System sickern. Wir fahren weiter. Ich bin gespalten. Über den Verkehr haben wir wenig Gutes gehört (was uns an Litauen erinnert) und die Temperaturen werden wohl nicht so gut sein, dass wir wieder vor allem zelten können. Ausserdem sind es nach Portugal und dann in die Schweiz ungefähr so viele Kilometer wie von Bern nach Tallinn – aber uns bleibt weniger Zeit. Wir haben das Bedürfnis, es jetzt entspannter anzugehen, was gerade hier in Frankreich, wo ich mich einfach unterhalten, informieren, austauschen kann, besonders gut funktioniert. Gleichzeitig habe ich erst neulich wieder Bilder aus Spanien angeschaut – es sieht wirklich sehr schön aus.

Bei einer nächsten Haltemöglichkeit warte ich: Du, ich meine, nur weil wir die Tickets gekauft haben, heisst das noch lange nicht, dass wir diesen Zug auch nehmen MÜSSEN. Wir fahren weiter. Wir halten noch diverse Male an, diskutieren, erwägen, verarbeiten. Schliesslich wird uns klar, dass wir jetzt vor allem zwei Dinge wollen: Velofahren und länger in Frankreich bleiben. Die Aussicht, uns bald schon wieder auf eine neue Sprache einzulassen, wieder für zwei bis drei weitere Monate in die (semi-)Sprachlosigkeit einzutauchen, um uns am Ende, ganz am Ende, einen guten Monat in Frankreich zu erholen, finden wir auf einmal nicht mehr so berauschend.

Denn neben dem Velofahren und Europa erleben ist auch ein Ziel in diesem Jahr wichtig: das Gefühl erleben, über unsere Zeit frei verfügen zu können. Und jetzt bietet sich diese Gelegenheit: einem Bedürfnis nachgehen und handeln, einfach so.

Der Beck in Metz

In einem neuen Land freuen wir uns immer auf den ersten gemütlichen Einkauf. Im Carrefour Express nahe unseres Hotels in Metz (F) streifen wir durch die Regale, neue Lebensmittel, neue Getränke, und von mir seit Monaten sehnlichst erwartet: Käse. Richtiger Käse. Die bisherigen Länder auf unserer Tour konnten mit diversen feinen Esswaren aufwarten, aber leider nicht mit gutem Hart- und Halbhart-Käse.

Draussen ist es längst dunkel geworden, als wir mit unseren Köstlichkeiten im Zimmer sitzen, durch eine Häuserschlucht schauen und essen.

Leider hatten wir vergessen, dass der nächste Tag ein Sonntag ist. Während Lebensmittelgeschäfte in Polen, dem Baltikum und in Schweden auch sonntags geöffnet haben, ist dies in Frankreich nicht der Fall. Wir finden zwar einen geöffneten Waschsalon und ein Tea Room – können aber keine Nahrungsmittel einkaufen. Hungrig stellen wir fest, dass auch die Biobäckerei um die Ecke geschlossen ist – obwohl sie gemäss Schild geöffnet haben sollte. Ein Mann kommt aus einer Seitentür. Wir haben sonntags ab 15 Uhr geschlossen, sagt er und zeigt auf das Schild, hier habe ein Zettel mit dem entsprechenden Hinweis gehangen. Wir können unsere Gesichtszüge nicht kontrollieren. Was wollten Sie, Brot? Wir nicken. Also, kommen Sie. Er schliesst die Ladentür auf und zeigt uns, was es noch gibt: Baguettes, Croissants und einen Laib dunkles Brot. Eine Baguette, sage ich. Wollen Sie auch noch Croissants? Er hält uns ein Blech voller französischer Gipfeli hin. Wir schauen uns an, also, zwei bitte. Stefanie hat das Portemonnaie hervorgezogen und wühlt im Münz. Nein, nein, kein Geld, bitte, die Kasse ist schon geschlossen. Sie will ihm etwas geben, für die „Kaffee-Kasse“, nein, wirklich nicht.

Ich sage ihm, er habe uns gerettet – denn morgen ist ein Feiertag: Am Tag des Waffenstillstandes 1918 sind praktisch alle Geschäfte und Restaurants geschlossen.

Eine warme Dusche und ein Schlafplatz

Es ist bald beschlossene Sache: Wir werden vorläufig nicht zelten. Der Aufwand, Zeltplätze zu finden, ist gross, die Distanzen dazwischen sind meist nicht in einem Tag zu überbrücken und unser Material ist den Temperaturen nicht so gewachsen, dass es auf Dauer Spass macht. Nur ist unser Budget aber nicht für Hotelnächte ausgelegt. Wir wenden uns also dem Warmshower-Netzwerk zu.

Warmshowers ist ein Netzwerk von VelofahrerInnen für VelofahrerInnen. Im Minimum werden eine heisse Dusche (warm shower) und ein Schlafplatz angeboten. Das kann ein eigenes Zimmer sein, aber auch ein Platz auf der Couch, im Wohnzimmer (mit Mätteli und Schlafsack) oder im Garten zum Zelten. Manchmal gibt es Abendessen oder man kann die Küche benutzen. Manche Warmshower bieten auch andere Dienstleistungen an, dass man Pakete an ihre Adresse schicken kann oder dass man Velos und/oder Gepäck für eine gewisse Zeit einstellen kann. Das sind alles Dinge, die für Langzeit-VelofahrerInnen sehr wichtig sein können.

Ich bin seit Neuseeland Mitglied, leider hat es bislang nie geklappt. Entweder haben die Leute nicht oder erst viel zu spät zurückgeschrieben. Hier in Frankreich haben wir aber gleich beim ersten Versuch Glück. Kein Problem, schreibt Raphaël, wir könnten sogar ein eigenes Zimmer haben, er komme zwar erst um 19 Uhr heim, aber Estelle werde da sein.

Während wir uns durch die Hügelzüge der Champagne kämpfen, merke ich, dass ich wenig an die bevorstehende erste Begegnung mit einem Warmshower denke. Ich habe offenbar ein sehr gutes Gefühl.

Vom letzten Hügelzug tauchen wir ab in ein kleines Tal und finden das kleine Dorf mit trutzigen Steinhäusern und einer ebenso trutzigen Kirche. Nummer 25, hat Raphaël geschrieben, mit grünen Fensterläden. Ich klopfe vorsichtig ans Küchenfenster, weil dahinter eine Frau an der Abwäsche beschäftigt ist. Herzlich willkommen, sagt sie, sie heisse Estelle.

Wir laden die Velos ab, stellen sie zwischen Treppe und Bad, Estelle zeigt uns das Zimmer. Wir duschen und richten uns ein. Dann suche ich Estelle und frage, wie es hier so laufe mit den Warmshowers, ob es Abendessen gäbe oder ob wir uns selber was kochen. Nein nein, sagt sie, sie koche etwas für alle, ob Pommes Frites in Ordnung seien.

Raphaël kommt etwas später, ein schlanker, kleiner Mann, mit einem Instrumentenkasten in der Hand. Da er auch recht gut Englisch redet, wechseln wir die Sprache, damit Stefanie besser versteht. Er legt eine Platte auf und wir setzen uns ins Wohnzimmer, erzählen, wo wir durchfahren. Warmshowers hatte Raphaël bisher nur einmal beherbergt, wir stehen also auch einem Anfänger gegenüber. Allerdings ist er oft nicht zu Hause: Der Bassist lebt von der Musik, spielt in vier Bands und hat 60 Auftritte pro Jahr.

Übrigens sei er bald in Orléans, sagt er, als wir die Reise der nächsten zwei Wochen skizzieren. Es stellt sich heraus, dass er an unserem ersten Abend in Orléans 750m von unserer Unterkunft entfernt einen Gig haben wird: Wir werden mit Esther und Hans, die uns in Orléans besuchen, hingehen.

Bei diesem Warmshower gibt es nicht nur ein eigenes Zimmer und ein Znacht, sondern auch eine grosse Portion Vertrauen: Als er uns fragt, wann wir morgens losfahren, stellt sich heraus, dass die beiden noch vor uns aufbrechen werden. Kein Problem, sagt Raphaël, wir könnten losfahren, wenn wir wollten, wir sollen einfach die Tür hinter uns zuziehen.