Am Freitag dem 13. März um Viertel nach drei stehe ich auf dem Place Carnot in Carcassonne und passe auf die Velos auf, Stefanie ist im Carrefour und kauft ein. Knapp anderthalb Kilometer sind es noch zur Jugendherberge in der Cité Médiéval von Carcassonne, einer der best erhaltenen mittelalterlichen Stätten und natürlich Weltkulturerbe. Von daheim hören wir, dass der Bundesrat in einer Viertelstunde über neue Massnahmen informieren will. Ich schaue mich um, einige leicht alkoholisierte Männer sitzen auf den Stufen des Neptunbrunnens, vor den Cafes sitzen Menschen in der Sonne. Nichts wirkt anders als noch vor Weihnachten, als die Menschen die überraschend milden Nachmittage vor Bier und Kaffee draussen verbrachten. Plötzlich spüre ich einen Anflug von Angst: Wird sich alles ändern? Sollten wir nach Hause fahren? Ist jetzt vielleicht nicht mehr der Moment, einen Traum zu Ende zu leben? Geht es jetzt nicht mehr um persönliche Pläne?
Wir schreiben in die Schweiz, an FreundInnen und Familie, wie ist es bei euch, was denkt ihr, tut ihr, wie ist es so. Alle sind verunsichert, nehmen das Ganze mehr oder weniger ernst, wissen aber auch nicht so genau, ob sie überreagieren. Der Bundesrat schliesst die Schulen und wir denken: na gut, das haben wir in Frankreich schon.
Am nächsten Tag besuchen wir den samstäglichen Markt in Carcassonne und wiederum hat sich nichts verändert. Noch immer wird geküsst, nahe beieinander gestanden, wir leben in drei Realitäten, erstens die offizielle aus Frankreich und der Schweiz, zweitens jene, die wir über FreundInnen und Familie aus der Schweiz mitbekommen und drittens den Alltag hier in Frankreich.
Abends um neun kommt der Hammer: Wir sitzen im Aufenthaltsraum und nutzen das Wlan, als der Herbergsleiter uns informiert, Frankreich habe soeben beschlossen, alle nicht-wesentlichen öffentlichen Einrichtungen zu schliessen: Bars, Restaurants, Unterkünfte. Auch die Jugendherberge schliesse um Mitternacht, wir müssten am nächsten Morgen abreisen.
Stefanie befindet sich einen Moment wie auf Glatteis, will in alle Richtungen und kommt doch nicht vom Fleck. Wir telefonieren mit einem befreundeten Paar in der Schweiz. Im Zweifelsfall hole ich euch mit Marta ab, sagt Roman und meint das Bössli. Unklar ist, ob Campingplätze weiter geöffnet haben. Bislang sind wir nämlich der Ansicht, dass wir zwei Risikopersonen auf dem Velo sicherer sind als daheim in der Schweiz. Weniger Kontakt, mehr frische Luft. Das Telefonat mit einem Camping zeigt: er nimmt uns morgen auf jeden Fall auf.
Am nächsten Tag scheint die Sonne, die Vögel pfeifen, die Welt wirkt heil. Zwar schiebt jetzt jede zehnte Partei, die aus dem Supermarkt kommt, ein übervolles Wägeli vor sich hin, mit Dutzenden von Milchflaschen, viel Toilettenpapier und Nahrungsmitteln. Im Camping steht vor dem Tresen ein Abstandshalter, das Personal trägt Handschuhe und desinfiziert ständig Telefonhörer und Türfallen. Auf dem Camping ist viel los, wir fragen uns: warum? Zwei englische Paare sind auf dem Heimweg, die Fähre in Santander fährt nicht mehr, sie wollen nach Calais oder Dünkirchen weiter. Einige Niederländer sind wohl auch auf dem Heimweg, was die vielen Franzosen in ihren Wohnmobilen machen, wissen wir nicht.
Campings, die bereits geöffnet sind, dürfen vorderhand offen bleiben, teilt uns die Frau beim Checkin mit. Mir kommen beinahe die Tränen, die Information erleichtert mich vorübergehend.
Abends telefonieren wir mit Roman. Soll ich sofort abfahren, fragt er. Wir analysieren die politische und emotionale Lage und befinden: morgen früh reicht. Das Vorgehen der umliegenden Länder zeigt, dass Ausgangssperre und Grenzschliessung absehbar sind. Vor allem wenn die Pariser Bevölkerung weiterhin unter dem Bürofenster von Macron tut, als ob nichts wäre.
Ausgangssperre und Grenzschliessung würden unser Fortkommen erschweren. Erstens käme Roman im Notfall nicht mehr nach Frankreich und zweitens wäre unklar, wie die Polizei auf zwei Velofahrerinnen reagieren würde, die von Ort zu Ort fahren. Campings und Unterkünfte sind zunehmend schwieriger zu finden und beim wildzelten ist es noch schwieriger, zwischen sauber und nicht sauber zu trennen, irgendwie berührt sich alles doch immer wieder.