„Du“, weckt mich Stefanie mitten in der Nacht im Büro, wo ich bei ungefähr 12 Grad herrlich schlafe. „Bei mir im Zimmer ist eine Ratte.“ Obwohl aus dem Tiefschlaf gerissen, bin ich sofort wach. Eine Ratte!
Stefanie schläft im „Ofenzimmer“, wo wir uns auch tagsüber aufhalten. Als wir uns auf ihren Bettrand setzen, knackt der erkaltete Ofen hin und wieder, sonst ist nichts zu hören. Wir suchen im Lichtstrahl unserer Stirnlampen das Zimmer ab, wo ist die Ratte? Schliesslich bemerken wir in der Nähe des grossen Schrankes ein zehn Zentimeter grosses Loch, das ins Büro hinüberführt. Neben den zwei dünnen Leitungen hat da bestimmt auch eine Ratte Platz.
„Ich habe letzte Nacht etwas bei mir auf dem Schrank gehört“, erinnere ich mich plötzlich, denn im Büro steht ebenfalls ein hoher Schrank. Wir schauen uns an, was sollen wir tun?
Eine Weile legen wir uns im Ofenzimmer hin, aber als die Ratte auf dem Schrank im Ofenzimmer schabt und knabbert, wechseln wir ins Büro. Schlafen können wir nicht. Wir hatten schon Mäuse im Zelt, aber diese waren nicht im Innenzelt, nicht genau da, wo wir schliefen. Wo ist die Ratte?
Nun knabbert die Ratte auf dem Schrank im Büro. Eine Weile lauschen wir dem Geräusch, wir wissen immerhin, wo sie ist. Wenige Minuten später schrecke ich auf, das Geräusch hat sich verändert, ich höre winzige Füsse auf dem Bode und richte den Strahl der Stirnlampe in die Richtung. Die Ratte rennt an den Stromkabeln neben dem Schrank die Wand hoch. In mir steigt unbekanntes Grausen auf. Dreissig Zentimeter vor der Decke verliert sie den Halt und fällt hinunter auf den Boden. Etwas will mich schütteln. Sie flieht am Boden hinter das Kajütenbett in der Ecke.
Wir wechseln wieder ins Ofenzimmer und liegen wach; erst als es lang und länger still bleibt, schlafen wir ein.
Als mein Cousin Daniel, der uns besucht, am Morgen von seinem Zimmer im oberen Stock herunterkommt, sage ich, ich hätte eine schlechte Nachricht. Ah bon? Ja, wir haben eine Ratte.
Offenbar war das grundsätzlich bekannt, allerdings wurde sie bis jetzt nur im Stall gesichtet. Wir stellen Fallen auf, eine im Ofenzimmer, eine im Büro.
Durch den Tag schiesst mir immer wieder die Erinnerung durch den Kopf, das Geräusch der kleinen Füsse auf dem Boden, der schwarze Blitz im schwachen Licht die Wand hoch, das Herunterfallen, etwas in mir reagiert darauf, etwas, was älter ist als ich, was uralt ist.
Als wir am Abend vor dem Feuer sitzen und lesen, will keine von uns ins Bett. Seite um Seite nehmen wir noch mit, ungewiss, was die Nacht bringen könnte. Da, ein Kratzen in der Ecke zwischen Ofen und Wand, wir schiessen beide auf, richten den stärksten Strahl unserer Lampen auf ein Fünfzentimeterloch in der Decke, ein direktes Loch in den Estrich.
Fast ohne zu reden sind wir ein Team. Während Stefanie die Lampe auf das Loch richtet, hole ich die Leiter, ein Stück Holz, krame im Schrank nach Nagel und Hammer, finde einen Akkuschrauber und Schrauben. Wir räumen die Ecke frei, stellen die Leiter auf. In der Hoffnung, dass sich die Ratte vom Licht abhalten lässt, steige ich langsam die Leiter hoch, das Brett in der Hand. Ich zwinge das Grausen nieder, unkontrolliertes Schütteln ist jetzt nicht gefragt. Noch eine Sprosse. Stefanies Lampe und meine vereinen sich im Loch, dahinter bleibt es dunkel, kein Geräusch ist zu hören. Noch eine Sprosse. Mit jedem Tritt rückt mein Gesicht näher an das Loch und an das Ungewisse dahinter. Ich recke den Kopf, damit die Stirnlampe immer noch auf das Loch zeigt, das Brett darf erst im letzten Moment dazwischenkommen.
In einer einzigen Bewegung steige ich noch eine Sprosse hoch, hebe den Arm, atme alle Regungen weg und drücke das Brett auf das Loch. Mit zitternden Händen drehe ich die ersten Schrauben hinein, aber das Holz ist hart und der Akkuschrauber schwach. „Liegt da nicht noch eine Bohrmaschine?“ fragt Stefanie. Ich haste in den Stall. Bald ist das passende Bit aufgesetzt, mit vertrauenerweckendem Surren dreht Stefanie die Schrauben bis zum Anschlag ein. Die entstandenen Ritzen dichten wir mit Feuerholz ab, widerstehen aber dem Drang, noch mindestens siebenundzwanzig andere Bretter davorzuschrauben, um ganz, ganz sicher zu sein.
In der nächsten Nacht wetzen die Füsschen direkt über dem Bett hin und her, nur ein einfacher Bretterboden trennt uns. Wieder scheint in mir etwas aufzutauchen, was ich nicht meiner eigenen Lebenserfahrung zuordnen kann. Vielleicht hat sich die Angst vor Ratten in epigenetischer Manier über unsere Vorfahren in uns eingeschrieben, sie, die täglich Ratten begegnet waren, mit ihnen einen Teil der Menschheitsgeschichte erlebt hatten und die Ratten nicht als solche fürchteten, sondern darum, was sie mit sich brachten.
Als wir im Estrich eine Falle aufstellen, ist Ruhe. Vermutlich fand die Ratte das Klima nicht mehr so zuträglich und ist ausgezogen.
In uns entspannt sich etwas, wenn es sich auch nicht komplett entspannt. Zumindest ist das nächstgrausigere Bild vorläufig aus meinem Kopf verschwunden. Was, wenn die Ratte in die Falle gegangen, davon aber nicht getötet worden wäre?
Dein Grausen, liebe Katharina, erinnert mich an eine gruselige Geschichte von Patricia Highsmith – eine Ratte in Venedig…
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Ich glaube nicht, dass ich die Geschichte im Moment lesen möchte 😉
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