Noch fünfhundert Meter, unter einer Bahnlinie durch, noch dreihundert Meter, abbiegen, durch den Schatten einer Reihe von Kastanienbäumen und noch einmal abbiegen, Ziel erreicht. Wir stehen hinter einem Haus, eine Grünfläche, Mülltonnen, parkierte Autos, das eine oder andere rostige Velo mit fehlenden Einzelteilen lehnt an dem Haus: ein langes Gebäude, vier Stockwerke hoch, die Fassadenfarbe blättert ab. Hinter manchen Fenstern hängen adrette Gardinen, hinter anderen ist vielleicht nicht gerade Müll, doch aber unordentlich aufgehäuftes Material zu sehen. Irgendwo in diesem Haus haben wir eine Wohnung gemietet.
Langsam schieben wir die Velos zur Vorderseite. Auf einer Grünfläche umstehen einige Kastanienbäume einen neu gemachten Spielplatz und eine Sitzbank. Darauf vier alte Frauen, die Russisch sprechen. Wir sind zu früh, die Vermieterin kommt erst in zehn Minuten. Also nehmen wir die Umgebung in uns auf, den an Sowjetzeiten erinnernden Häuserblock, die breite Treppe, die zu einer Eisentür hochführt, Glassplitter auf dem Vorplatz. Eben waren wir noch an netten estnischen Häuschen aus Holz vorbeigefahren und hatten uns gewünscht, dass wir die nächsten fünf Nächte in einem solchen verbringen können.
Heruntergekommene Gegenden verbinden wir automatisch mit einer gewissen Bedrohung, herausgeputzte Gegenden mit Sicherheit. Das ist trügerisch – ich irrte einmal in einer äusserst schicken Gegend in der Nähe des Pont-du-Gard herum und suchte jemanden, den ich nach dem Weg fragen konnte. Aber alle Häuser verbargen sich hinter hohen Mauern und automatischen Schiebetoren, die wenigen Menschen, die ich sah, waren weit entfernt und verschwanden schnell hinter den Mauern. Beim Reisen lernt man mit der Zeit, dass Gegenden, die vermeintlich heruntergekommen aussehen – schäbige Hausfassaden, bröckelnde Eingangstreppen, aufgequollene Holzfensterläden usw. – nicht bedrohlich sein müssen. Vielmehr ist vielleicht das Geld knapp und wird auf Dinge verwendet, die wichtiger sind als eine perfekte Fassade.
Wir beobachten die Menschen um uns herum, die vier alten Frauen sind gut gekleidet, eine davon steht auf, verabschiedet sich, geht mit einem neugierigen Blick an uns vorbei und verschwindet im Haus, nachdem sie die Tür mit einem Badge geöffnet hat. Wir fühlen uns etwas unwohl, sind ein Fremdkörper, unsere beladenen Velos, die farbenfrohen Trikots, wir fallen auf. Stefanie ist noch immer etwas skeptisch: Was für eine Wohnung haben wir da gemietet!? Ich erzähle ihr von einem Erlebnis in Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau. Ich war von dem Bekannten meines Dozenten aus der Schweiz am Flughafen abgeholt und zu ihm nach Hause gebracht worden. Bei seiner Frau und ihm würde ich die nächsten zehn Tage wohnen und mit ihm Betriebe besuchen für meine Semesterarbeit. Wir bogen von der Strasse ab auf einen Parkplatz, an dessen Seite ein Haus hochwuchs, das bei unserem Standard massiv heruntergekommen war: auf den kleinen Balkonen stapelten sich Müllsäcke, aus denen der Inhalt durch Löcher herausquoll, kaputte Möbel und einige undefinierbare Dinge, die Fassade war nicht mehr nennenswert vorhanden, von den Klimaanlagen an der Aussenwand rannen rostfarbene Striemen die Wand hinunter, zu der Eingangstüre führte eine bröckelige Betontreppe hinauf, die rostige Eisentür selbst hing schräg. Die Büsche um den Parkplatz, der eigentlich nur ein Stück löcherigen Asphalts war, waren grau, nur der Müll dazwischen leuchtete bunt. Strassenhunde schnüffelten herum. Der Mann, den ich vor einer halben Stunde zum ersten Mal gesehen hatte, stieg aus und ging mit meinem Gepäckstück selbstverständlich die Treppe hoch, durch die Rosttür. Drinnen roch es streng und im düsteren Licht konnte ich verschmierte Wände erkennen. Ich dachte fest daran, dass mein Dozent diesen Mann gut kannte und ich Abenteuern nicht abgeneigt war. Vor einer weiteren Eisentür in der Ecke dieses „Eingangsbereichs“ blieben wir stehen, schliesslich fand der Mann einen Schlüssel und schloss auf. Dahinter kam eine unversehrte, adrette Eingangstür zum Vorschein, die er ebenfalls aufschloss. Ich trat aus dem Abbruchhaus in ein Daheim: sauber, warm und freundlich war es in dieser Wohnung, die Frau kam auf mich zu und begrüsste mich und aus der Küche hinter ihr roch es verführerisch nach Essen.
Unsere Vermieterin in Tallinn tauchte pünktlich auf und sprach Englisch mit russischem Akzent. Sie führte mich, während Stefanie mit den Velos wartete, durch die Tür in eine wohl sechzig Quadratmeter grosse Eingangshalle, in der in einer Ecke mit Zahlen versehene Briefkästen angebracht waren. Die höchste Zahl war 197. Über eine Treppe erreichten wir den ersten Stock und gingen einen langen Gang entlang, an dem links und rechts im Abstand von wenigen Metern Türen angebracht waren. Die letzte Tür, sagte die Frau, und unsere Schritte hallten auf dem Linoleum. In der Mitte des Gangs befand ein grosser Raum, vermutlich genau so gross wie eine der Wohnungen, mit zwei Fenstern, die mit künstlichen Blumen geschmückt waren. Ansonsten stand nur ein Stuhl in diesem Raum. (Kennt sich jemand mit sowjetischer Architektur aus und weiss, wozu dieser Bereich gedient hat?)
Am Ende des Gangs führte eine Tür auf ein winziges Balkönchen, auf dem an einer Wäscheleine Kleidungsstücke zum Trocknen aufgehängt waren. Die letzte Tür davor links war unsere. Mit einem Schlüssel, der im Prinzip ein Stock Eisen war, an dessen Ende links und rechts kleine Eisenstäbe herausragten, schloss sie die Tür auf. Ein Inneneinrichtungstraum aus silber und violett begrüsste mich, mit einer gesprenkelten Tapete, einem Türrahmen aus künstlichen Steinen und einem Zwergflusspferd als Deko. Wow, sagte ich, als ich die Schuhe abstreifte und die Wohnung inspizierte: Bett, Bettdecken, Waschmaschine, WLAN, Müll. Das sind erfahrungsgemäss die Fragen, die ich stelle.
Wir scheinen in einem russischen Quartier gelandet zu sein, denn rund um uns hören wir kaum Estnisch – und dabei gibt es nur 0.2% russischsprechende Menschen in Estland. Als wir unsere Velos durch die Eingangshalle stossen, alle Taschen abladen und dabei sind, alles hochzutragen, kommen drei ebenfalls russischsprechende Männer, die offenbar auf dem gleichen Stock wohnen. Der letzte nimmt mir nicht nur die beiden Saccochen aus den Händen, die ich gerade hochtragen will, sondern hält uns geduldig die Tür auf, während wir die Velos wieder beladen, um sie den langen Gang entlang zu schieben. Schliesslich verschwindet er in der ersten Wohnung links, die er offenbar mit den anderen zwei Männern bewohnt und die deutlich weniger schick eingerichtet ist als unsere.