In Tallinn erreicht uns die Post-Zielerreichungs-Müdigkeit, eine Mischung aus aufgebrauchten letzten Energien und angestauten Eindrücken der letzten vier Monate. Tallinn war voll und es war heiss. Sandalen und kurze Hose dominierten und wer draussen unterwegs war, schlich dem Schatten der Häuser entlang.
In den letzten zehn Wochen haben wir vier Länder besucht, mit unterschiedlichen Kulturen und Sprachen, mit anderen Strassensystemen, anderen Strassenbelägen, anderen Campingplatzsystemen, unterschiedlichen Kenntnissen des Englischen sowie unterschiedlicher Treffsicherheit der Übersetzungen bei G-Translator. Wir genossen jeweils den Wechsel, der in der Regel dadurch bestand, noch einmal die liebgewonnenen Nahrungsmittel zu kaufen, uns zu überlegen, was uns an dem Land gefallen hatte, schliesslich die Grenze zu überfahren, ein Foto zu machen und sich auf das neue Land einzulassen, mit neuer Aufmerksamkeit herumzuschauen und Landschaft und Leute aufzunehmen.
Gleichzeitig hatten die vielen Eindrücke vor allem mich ermüdet. Mein Geist sehnte sich nach Ruhe, um alles zu verarbeiten, um wieder Platz für Neues zu schaffen. Auch Stefanie war müde, bei ihr betraf die Müdigkeit allerdings eher die Beine und andere Körperteile.
Müde nahmen wir die Fähre nach Stockholm und müde fuhren wir durch Stockholm, über Gamla Stan und möglichst auf gerader Strecke wieder aus der Stadt heraus. Wir hatten genug von den Städten und ihrem Trubel.
Auf kurzen Etappen dauerte es zwei Tage, bis wir den Grossraum Stockholm hinter uns gelassen hatten. In einem Netz aus unzähligen Radwegen suchten wir unseren Weg südwärts und fuhren schliesslich auf mittleren Strassen, als die separaten Radwege verschwanden. Da wir immer noch ziemlich müde waren, passierte uns das „Dümmste Selbstverschuldete“, was beim Velofahren passieren kann: ein Auffahrunfall. Ich sah etwas, bremste, Stefanie war zu nah aufgefahren, konnte nicht mehr bremsen, schrammte in mein Velo und fiel. Wir hatten Glück im Unglück und es kam kein Auto. Zitternd schob sie ihr Velo in eine abbiegende Strasse, die zu einer Baumschule führte. Mein Velo konnte ich nicht mehr schieben, Stefanies Vordersaccoche war so auf mein rückwärtiges Schutzblech gestossen, dass es umgeknickt wurde und das Rad komplett blockierte.
Bald sassen wir am Strassenrand, der Inhalt zweier Saccochen verstreut, weil wir an zwei nur selten benutzte Dinge ranmussten: Werkstatt und Apotheke. Stefanie versorgte ihr aufgeschrammtes Knie, ich hebelte an meinem Schutzblech herum. In Minutentakt fuhren Autos an uns vorbei, bremsten, um sich dann in den Verkehr auf der Hauptstrasse einzufädeln. Niemand liess die Scheibe herunter, niemand fragte, ob wir Hilfe bräuchten.
Einigermassen wiederhergestellt schafften wir es auf den Campingplatz, eine Wiese mit einem Toiletten-Duschen-Haus in der Nähe des Meeres. Unentwegt hatten wir auf der Fahrt hierher die Optionen hin- und hergewälzt, wie würden sich die Schmerzen von Stefanies Knie verändern, welche Transportmöglichkeiten gab es in Schweden für Fahrräder, wie weit war es noch bis zu Luise (eine Freundin von mir, mehr zu ihr gibt es im nächsten Blogbeitrag).
Als abends ein Camperbössli mit einem deutschen Kennzeichen auf den Platz rollte, ergab sich eine neue Möglichkeit. Stefanie erkundigte sich, ob sie am nächsten Tag nach Nyköping fahren würden und ob es möglich wäre, dass sie sie mitnähmen. Leider nein, sie wollten sich das Naturschutzgebiet in der Nähe ansehen.
Als wir inmitten gepackter Saccochen frühstückten, schlenderte der Mann plötzlich her zu uns. Sie hätten sich besprochen und beschlossen, dass sie Stefanie nach Nyköping fahren würden. Sie hätten früher auch viele Fahrradtouren unternommen, da hätten sie solche Hilfe auch geschätzt. Leider stellte sich heraus, dass sie dachten, Stefanie müsse in eine Apotheke, um Medikamente zu holen wegen des Unfalls – sie glaubten nicht, dass sie Stefanie UND das Velo UND das ganze Gepäck in ihr Bössli bringen könnten. Gleichzeitig eröffnete ihr Angebot die Möglichkeit, tatsächlich Voltaren sowie Nahrungsmittel einzukaufen, um eine zweite Nacht auf dem Camping zu bleiben und Stefanies Knie die Chance zu geben, besser zu heilen. Ja, beschnacken Sie sich, sagte der Mann, der aus Hamburg kam.
Eine Viertelstunde später sass ich mit dem Mann im Auto, während die Frau einen Spaziergang machte und Stefanie das Zelt wieder einräumte und schliesslich ihr Bein hochlagerte.
Als wir nach einer Autofahrt mit anregendem Gespräch zurückkehrten, hatte die Frau im Wald faustgrosse Steinpilze gefunden. Wenn wir heute Abend eine Pilzpfanne machen, würden Sie die Hälfte essen, fragte sie. Ich nickte begeistert, denn der Mann hatte mir im Auto viel von ihrer beider Pilzleidenschaft erzählt und dass es in Schweden noch richtig viele Pilze gäbe, in einer Grösse und Anzahl, wie sie in Deutschland nicht mehr vorkämen.
So sassen wir also abends vor unserem Zelt und warteten auf das Abendessen, während es aus der kleinen Küche des Bösslis nach angebratenem Speck roch. Vorab gab es zwei kleine Tässchen mit Sud, schliesslich die Pilzpfanne mit gekochten Kartoffeln.
Dieses Erlebnis zeigt, wie schnell auf eine unerfreuliche Sache eine erfreuliche folgen kann. Und umgekehrt.