Die letzten Taue verlieren den Kontakt zu den Pollern am Ufer, die Fähre tuckert los, wir verlassen das Dorf Krynica Morska mit seinen Rummel-Bahnen, Souvenirshops und Glaceständen und steuern auf Tolkmicko auf der anderen Seite des Frischen Haffs zu. Gleich hinter der Kapitänsbrücke sind unsere Velos festgemacht, sieben Leute sitzen neben uns auf den Bänken auf dem Oberdeck der Fähre.
45 Minuten dauert die Fahrt über die knapp zehn Kilometer Breite des Frischen Haffs. Hinter uns verschwindet das Ufer, das Festland von Polen ist in der Ferne als schmaler Streifen Wald zu erkennen, rechts scheinen Bäume losgelöst voneinander und ohne Haftung auf dem Boden geradezu in der Luft zu schweben, eine Sinnestäuschung durch die Spiegelung des Sonnenlichts auf dem Wasser, links, gegen Russland hin, sieht es aus, als ob das Frische Haff ins offene Meer führte, das Haff ist so lang, dass es sich über die Krümmung der Erde ausdehnt und wir dadurch das Ufer auf der russischen Seite nicht sehen.
Die Fähre ist langsam, nur ein leichter Fahrtwind weht und es ist immer noch warm. Die Velos haben wir festgebunden, aber es wäre wohl nicht notwendig gewesen. Wir sind müde von der Fahrt auf die Nehrung, unsere Mitreisenden von ihrem Ausflug auf die Nehrung und an die Ostsee.
Ich habe Zeit, über die Rolle nachzudenken, die das Frische Haff am Ende des zweiten Weltkriegs gespielt hat, als Hoffnung, als letzte Zuflucht, als Ort, an dem Tausende von Menschen gestorben sind – im Eis und in der Kälte.
Im Oktober 1944 beginnt die grosse Flucht und Vertreibung von Personen aus den ehemaligen deutschen Gebieten Ostpreussen, Pommern, Brandenburg und Schlesien. Die Deutschen fürchten Repressalien seitens der polnischen und tschechischen Bevölkerung als Reaktion auf die Gräueltaten der Nazis. Der Winter 1944 bricht früh und hart herein. Die Zugverbindungen sind durch den Krieg bald unterbrochen, Motorfahrzeuge besitzt nur die Wehrmacht. Die Menschen fliehen zu Fuss, manche mit Pferdekarren oder Handwagen. Es gibt keine medizinische Versorgung, keine Lebensmittel, kaum Trinkwasser. Die eisigen Temperaturen fordern bald die ersten Opfer: Säuglinge, Kleinkinder, alte, schwache, kranke Menschen. Viele sind überstürzt aufgebrochen, die Ausrüstung ist denkbar ungeeignet für eine solche Strapaze. Kinderwagen werden durch den Schnee geschoben, schwere Koffer mitgeschleppt.
Als am 12. Januar die Winteroffensive der Roten Armee beginnt, verschärft sich die Situation weiter. Die deutsche Armee kann den Sowjets wenig entgegen setzen. Ende Januar ist Ostpreussen von der sowjetischen Armee eingekreist und vom Rest des deutschen Reiches abgeschnitten. Die Menschen versuchen nun, in Richtung Russland zu entkommen und wagen sich über das zugefrorene Frische Haff, das nur durch eine schmale Landbrücke von der Ostsee getrennt ist. Sie hoffen, es bis Pillau (am russischen Ende des Haffs) oder zum Danziger Hafen (Gdansk) zu schaffen. Das Eis trägt die Menschen häufig nicht, Pferdekarren und Menschen sinken ein, während sie von den Sowjets beschossen werden.
In Pillau beginnt laut NDR die umfangreichste Rettungsaktion von Menschen über See aller Zeiten. Minensucher, Torpedoboote, Kreuzer, Schlepper, Eisbrecher, Fischdampfer, Kohlenfrachter und Kreuzfahrtsschiffe versuchen, die rund 75’000 Flüchtlinge aufzunehmen, die in das 12’000-EinwohnerInnen-Dorf Pillau eingefallen sind. Aber viel Stauraum ist mit Soldaten und Kriegsmaterial besetzt, die sich auf dem Rückzug befinden. Deshalb setzen manche Flüchtlinge mit Fähren auf die Nehrung über, die noch nicht von den Sowjets eingenommen ist.
Wie viele Menschen gerettet werden konnten, ist bis heute ungeklärt. Die Zahlen reichen von 800’000 bis zu 2.5 Millionen. Dazu kommt, dass der Platz auf einem der überfüllten Boote noch keine Überlebensgarantie war – der Passagierdampfer Wilhelm Gustloff wird von einem sowjetischen U-Boot torpediert und sinkt.
Wer es bis nach Deutschland schafft, trifft auf ein vom Krieg geschwächtes Land, zerbombte Städte und eine traumatisierte Bevölkerung – die den Flüchtlingen Misstrauen und Abwehr entgegenbringt.
Wir nähern uns Tolkmicko, schon sind Häuser und Autos zu erkennen, links der Ortschaft sehen wir bewaldete niedrige Hügel, durch die wir am nächsten Tag durchfahren werden, um nach Frombork zu gelangen. Die Fähre legt am kleinen Hafen an, die Leute packen ihre Taschen und steigen aus. Der Kapitän und der Billetverkäufer helfen uns, Saccochen und Velos abzuladen, neue PassagierInnen steigen ein und schon ist die Fähre wieder unterwegs, zurück nach Krynica Morska. Wir beladen unsere Velos und fahren in den Ort, wo es im Garten eines Privathauses eine Campingmöglichkeit geben soll.
Ich verfolge eure Berichte stets mit grossem Interesse!! Danke fürs geschichtliche Update. Die Geschichte dieser Zeit interessiert mich sehr! Der Film „die Flucht“ mit Maria Furtwängler hat mich sehr beeindruckt!!
Wir wünschen weiter eine gute Zeit mit möglichst nur kleinen, gut lösbaren Problemen ( wenn’s denn sein muss 😉
Herzlichst
Barbara und Fred
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Danke! Wir freuen uns sehr, wenn ihr Freude an unseren Berichten habt! Sie geben uns auch immer die Gelegenheit, die Eindrücke noch einmal durchzugehen. Lieber Gruss, K.
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