Nach Ustka zeigt der R10 (Internationaler Radweg) Zähne und Klauen. Das beginnt mit einem schmalen Weg durch ein Naturschutzgebiet, eine grosse, unüberschaubare Fläche mit hohem Gras, von Wasserstellen und kleinen Waldstücken durchzogen. Der Weg ist eher ein Wanderweg, holperig, aber soweit zu fahren. Hin und wieder gibt es gerundete Holzstege, die brückenähnlich über wohl allzu vernässte Stellen führen – wir müssen uns so stark auf den Weg konzentrieren, dass wir um uns herum wenig wahrnehmen. Als wir schon zu weit in diesem Gebiet drin sind, um noch umkehren zu können, stürzen sich Mücken auf uns. Und Bremsen. Wie es um mich steht, kann ich nicht sehen, aber um Stefanie schwirren mindestens acht grosse Bremsen, die Mücken sieht man schlechter. Sie steigt ab, führt einen seltsamen Tanz auf und nestelt dann ihre lange Hose hervor. Ich zwänge mich, das Velo an mich gelehnt, in die Regenhose. Bei Temperaturen zwischen 25 und 30 Grad. Mückenschutz auf die Arme und weiter geht es, Stefanie in langer Hose, Regenjacke und Kopfnetz. Mit der ständigen Ablenkung durch Bremsen und personenhohes Gras, das im Gesicht kitzelt, können wir nicht mehr richtig fahren und entscheiden uns für einen strammen Fussmarsch.
Danach kommen Platten. Diese sind von der fiesen Sorte, also mit den ovalen Vertiefungen, allerdings querverlegt, so dass ich zwischen Misdroy und Ustka noch schwärmte, dass man das doch fahren könne. Ja, wenn die Wege relativ neu sind. Wenn sie älter sind, liegen die Platten nicht mehr genau aneinander, sie verschieben sich, senken sich an einer Ecke ab, so dass es nicht gelingt, mittels auf den Horizont gerichtetem Blick auf dem ca. acht Zentimeter breiten Stück zwischen den Vertiefungen zu bleiben. Dazu kommen die Höhenunterschiede zwischen Platten. Wir holpern vorwärts, nur weg von dem Stech-Getier, und das mittlerweile tropische Klima in der Regenkleidung treibt uns noch zusätzlich an. Da wir ja nicht das Ziel haben, den R10 zu fahren, sondern ihn fahren, weil er in unserer Richtung liegt, kürzen wir ein Stück ab, die Platten werden besser. Ausserdem sind es jetzt zwei Spuren aus Platten und dazwischen Sand, der mehrheitlich fahrbar ist. Zur Aufmunterung blinken zwei Traktoren, die uns mit Anhängern voller Heuballen entgegenkommen links, dass sie in die Hofeinfahrt abbiegen und wir somit nicht ausweichen müssen. Und die Landwirte heben grüssend die Hand! Findet ihr nicht der Erwähnung wert? Wir schon – auf 1600km durch Deutschland haben wir nicht erlebt, dass wir aus Autos oder Traktoren auch nur wahrgenommen wurden, wenn wir uns an den Strassenrand stellten, um die Gefährte vorbeizulassen.
Weiter geht es mit Sand. Auf gepresstem, feuchtem Sand oder durch eine ca. einen Zentimeter hohe Schicht trockenen Sands zu fahren verursacht ein schönes Geräusch: ein Knirschen, aber aufgrund der kleinen Sandteilchen ist nicht mehr jedes Berührungsgeräusch am Reifen zu hören, sondern ein durchgehendes Geräusch, fast wie ein Summen, ein samtenes, glücklichmachendes Geräusch. Das wir leider nicht oft hören, denn der Sand ist schnell eher acht Zentimeter tief, das fühlt sich an, als würde jemand abrupt nach dem Hinterrad greifen, es festhalten und das Vorderrad verdrehen. Wer nicht aufpasst, fliegt. Auf einer sandigen Strasse läuft es so ab: abrupte Verlangsamung durch tiefen Sand, Kontrollverlust, absteigen, das nicht mehr 45kg schwere, sondern gefühlt 90kg schwere Velo aus dem Sand ziehen, aufsteigen, 10-15m fahren, Wiederholung. Angestrengt lesen wir den Boden, wo können wir fahren, wo ist der Sand zu tief. Als zusätzliche Herausforderung sind unsere schweren Velos unflexibel, dass wir nicht leicht die Spur wechseln können. Grundsätzlich ist es besser, dem Vorderrad seinen Willen zu lassen im Sand, den Lenker festzuhalten und in die Pedale zu treten. So kommt man schon mal durch Sandstücke, das haben wir mit der Zeit gelernt. Gleichzeitig driftet das Velo aber meist zu einer Strassenseite hin, was dazu führt, dass es sich geradewegs in tiefe Sandlöcher verrennt. Im Sand vergisst das Rad nämlich, dass es rollen kann und driftet seitwärts mit leichter Tendenz gegen vorne. Zu dieser schweisstreibenden, kräftezehrenden Arbeit kommt dazu, dass wir manchmal in langer Kleidung stecken, weil es im Wald natürlich auch Mücken gibt. Und an sonnigen Stellen Bremsen.
So gelangen wir nach Leba. Wir stellen das Zelt auf, duschen und haben dann nichts Besseres vor, als uns am Nachmittag noch einmal richtig in den Sand zu begeben. Wir besuchen die grösste Wanderdüne an der pommerschen Ostseeküste (siehe nachfolgenden Blogbeitrag).
Sand ist auch nach Leba ein Thema, denn auch am nächsten Tag landen wir wieder im Sand und schieben eine gute Stunde die Velos. Danach sitzen wir mit hochroten Köpfen und Schweissbächen im Gesicht im Schatten vor einem Sklep, jede ein kühles Getränk in der Hand. Ich will heute keine Wälder mehr sehen, sagt Stefanie. Also fahren wir Landstrasse. Das klappt gut, es geht hoch und runter, der Verkehr ist mässig. Beim nächsten entgegenkommenden Velofahrer fragen wir, ob er von Gdansk kommt und wie die Strecke war. Kein Sand, sagt er, mehrheitlich gut zu fahren.
Bis Gdynia, der kleineren Schwesterstadt im Norden von Gdansk, holpern wir noch einmal über alles mögliche: Platten, alten, zerbröckelten und geflickten Teer, schönen Asphalt, fein und neu gepflasterte Radwege. Die grösste Herausforderung polnischer Strassen ist, dass sich der Belag jederzeit und aus keinem erkennbaren Grund ändern kann. Das ist auf Osmand (unsere Navigationsapp) nicht erkennbar (bei Osmand gelten Platten und Pflaster als befestigt, was natürlich korrekt, aber in der Praxis unbrauchbar ist) und bestimmt auch auf Karten nicht.
Nach Gdynia zeigt Polen, was es auch kann: ein breiter, rot gefärbter oder mit roten, feinen Pflastersteinen gebauter Radweg neben der Strasse führt uns bis nach Gdansk. Teilweise entlang einer mehrspurigen Strasse, teilweise der Meerfront von Sopot (Städtchen zwischen Gdynia und Gdansk) entlang, wo weisse Sonnenschirme in den blauen Himmel zeigen und Menschen zum Strand und zu den Eisbuden strömen. Auch hier begreifen nicht alle FussgängerInnen, dass Radwege tabu (und bei den Geschwindigkeiten mancher RadlerInnen hier geradewegs gefährlich) sind. Es gibt perfekt ausgeschilderte Radweg-Umleitungen und einen kleinen Radkreisel. Markiert ist der R10 hier nicht mehr und auch sonst ist die Beschilderung nicht immer klar: Manchmal ist der Radweg einspurig, also auf der einen Seite der Strasse in die eine, auf der anderen in die andere Richtung, manchmal ist Gegenverkehr. Auch beim Überqueren von grossen Kreuzungen ist nicht immer klar, wie wir genau fahren müssen, um schliesslich am richtigen Ende der Kreuzung zu landen. Trotzdem: Von Autos unbehelligt fahren wir auf dem R10 praktisch bis zu unserer Unterkunft, einem Apartment im Zentrum von Gdansk.