Die Tür hinter mir geht auf und ein Mädchen mit langen blonden Haaren fährt auf seinem Trottinett und einem rosaroten Rucksack an mir vorbei. Mit ihrer Mutter hat sie vorhin neben mir an den Lavabos gestanden und hat sich minutenlang die Haare gebürstet, während die Mutter sich die Haare föhnte. Während ich meine Medikamente nahm, die Zähne putzte und die Linsen einlegte, traf mich immer mal wieder der ausdruckslose Blick der rund Zehnjährigen.
Bald fahren wir tatsächlich auf einem schönen Heideweg, sandig ist der Boden und überall liegen Föhrennadeln. Links und rechts vom Weg tauchen erste Erikapflanzen auf. Blühen die schon oder noch, fragt Stefanie, aber ich weiss es nicht. Bei nahen Pflanzen ist die violett-rosa Farbe gut zu erkennen, in der Ferne sieht es eher nach braun aus. Über den rund dreissig Zentimeter hohen Büschen wachsen hie und da Föhren. Der Blick reicht nicht weit, bald stösst er an einen kleinen Wald am Horizont. Ich vermeine ätherische Öle zu riechen, leicht brennt es in der Nase, der Duft erinnert mich an das Mittelmeer. Wir sind in der Heide!

Die ersten Meter in der Heide.

Blühende Erikasträucher (Heidekraut).
Damit ist es aber bald vorbei, der Veloweg wird sehr abenteuerlich, Mais- und Getreidefehler tauchen auf, Hecken umrahmen Wiesen, auf denen Kühe grasen, Bauernhöfe und gepflügte Äcker. Ich dachte, die Lüneburger Heide sei ein Naturschutzgebiet, sage ich. Stefanie erinnert an Dieter, der uns auf dem Campingplatz in Burhave mit Bratwürsten versorgt hat und erzählte, dass die Lüneburger Heide auch nicht mehr sei, was sie mal war, dass es sich gar nicht lohne, hinzufahren, weil der effektive Heideteil heute nur noch eine kleine Fläche sei. Ich befürchte, dass die letzten paar Kilometer vielleicht die ganze Heidelandschaft gewesen sei, die wir heute sehen und bin sehr enttäuscht.
Wir schlagen uns nach Bispingen durch, ich suche mit dem Handy nach einem Weg. Aber der Weg wird zu sandig, zu begrast, so dass wir umdrehen. Stefanie sagt, vielleicht muss man den Schildern einfach mal vertrauen, was wir dann auch tun. Prompt wird der Weg noch schlimmer, sehr abenteuerlich bis praktisch nicht fahrbar. Hohes Gras, sehr unebener Boden, verschlämmt… Ein Paar mit grossen Rucksäcken und Wanderschuhen sieht uns erstaunt an, als es uns kreuzt. Das ist als Veloweg ausgeschildert, denke ich, sage aber nichts. Vielleicht muss man den Schildern einfach mal vertrauen, spöttle ich, während ich voranholpere, kann aber nicht lachen, weil ich mich dafür zu fest konzentrieren muss.

Das ist ein offiziell ausgeschilderter Veloweg!
Beim Mittagessen auf einer Bank vor der mit roten Backsteinen gemauerten Kirche in Bisingen habe ich die Hoffnung auf eine anständige Heidelandschaft schon praktisch begraben. Wir gönnen uns gleich anschliessend Kaffee und Kuchen in der „Schmucken Witwe“ gleich auf der anderen Strassenseite.
Wir fahren weiter in Richtung Nordheide, als ein Schild kommt „Autos, Motorräder verboten“ und daneben eine Infotafel „Naturschutzgebiet Lüneburger Heide“. In mir frohlockt es, wir lesen den Text und ich sage, hier fängt das Naturschutzgebiet an, das war gar keine Heide bis jetzt und die Hoffnung ist aus der Asche auferstanden.
Die Heide ist mitnichten eine natürliche Landschaft. Sie entstand aus der Dreifelderwirtschaft heraus und würde heute in wenigen Jahren verwalden, wenn dagegen nicht angekämpft würde. Über Jahrhunderte hinweg haben die Heidebauern Heidepflanzen durch mähen und plaggen geerntet und als Einstreu verwendet. Kot und Urin der Tiere tränkten das Material und dadurch wurde es zu Dünger. Auf den abgeernteten Flächen konnte sich nur wieder die anspruchslose Heide regenerieren.
Den Hofdünger brachten die Bauern auf ihren insgesamt auch eher mageren Feldern aus. Dann bauten sie einige Jahre Roggen an. Wurde der Ertrag zu gering, weil durch die Ernte natürlich immer Nährstoffe abgeführt wurden, wechselten sie zum anspruchsloseren Sandhafer und danach zum Buchweizen. Danach ruhte das Land, wurde als Viehweide genutzt und erst dann wurde wieder neuer Hofdünger ausgebracht.
Wir fahren unter einer Strasse hindurch in das Naturschutzgebiet und bleiben nach einigen hundert Metern erstaunt stehen. Auf einem Stoppelfeld, im Naturschutzgebiet darf nur nach biologischen Richtlinien Landwirtschaft betrieben werden, tummelt sich ein junges Wildschwein. Völlig ungerührt von uns und einem entgegenkommenden Paar springt es über die Stoppelreihen, wühlt mit dem Rüssel im Boden und trabt weiter. Im Blickkontakt mit dem Paar steht die Frage: Wo ist die Mutter?

Wo ist die Mutter?
Nach einigen Kilometern durch den Wald auf einer breiten, geteerten Strasse ohne Verkehr ist allerdings fertig mit lustig: Der Boden ist gepflastert! Daneben führt ein Sandweg entlang, in dem mehr als zwanzig Zentimeter tiefe Spuren von Fuhrwerken erkennbar sind. Wir holpern und schimpfen und holpern und schimpfen, eine kleine Anhöhe entlang und dann breitet sich die Heide aus. Wahrscheinlich ist nur rund um Wilsede noch Heide, dort gibt es bestimmt auch die Heidschnucken-Schafe, prophezeit Stefanie (und wird Recht behalten). In Wilsede ist das Freilichtmuseum der Heide. Wir halten an und beraten, während ein Fuhrwerk mit Touristen an uns vorüberzieht. Gemeinsam beschliessen wir dann, auf dem Wanderweg zu fahren, neben Sandpiste und Pflasterstrasse in Richtung Wilsede führt.

Sandpiste und gepflasterter Weg durch die Heide.
Im Freilichtmuseum der sogenannten Heidebauern können wir viele der alten Geräte und Werkzeuge sehen. Viele Einrichtungsgegenstände sind aber nicht heide-typisch, sondern kennt man auch bei uns als der „guten alten Zeit?!“ Soviel steht auf einem Plakat, das zwei Männer beim mühseligen Plaggenstechen zeigt. Vom Wort „Plaggen“ kommt übrigens das uns bekannte Wort „Plackerei“. Zum Plaggenstechen gehören kurze Hacken sowie Geräte zum Greifen der „Soden“.
Die Herfahrt sei auch eine Plackerei gewesen, erzählen wir der Frau an der Kasse, mit den ganzen Pflasterstrassen. Sie berichtet, dass man früher nur auf den Sandpisten die Heide habe durchqueren können – und die hätten uns bestimmt auch keinen Spass gemacht. Da man aber sowieso immer Steine gesammelt habe, die durch die Winterbewegungen im Boden an die Oberfläche gearbeitet worden seien, sei es natürlich sinnvoll gewesen, die Strassen damit zu pflastern. Sie habe ein Velo mit sehr dicken Pneus und könne daher gut auf dem Strand fahren. Wir kommen auch mit einer anderen Mitarbeiterin ins Gespräch, die uns im Laufe dessen rät, später auf dem Pastor-Bode-Weg in Richtung Döhle zu fahren und dann nach Undeloh abzubiegen. Da würden wir wirklich durch die Heidelandschaft fahren. Ich glaube, sie hatte Mitgleid mit mir, weil ich so enttäuscht war von der bisherigen Heide.

Eine Herde Heidschnucken (Schafe) mit einem Schäfer.
Zwar finden wir den Weg nicht auf Anhieb, es ist nicht ganz einfach, sich in dem Dorf aus traditionellen Häusern und der umgebenden Landschaft zu orientieren, aber auf Google Maps finde ich ihn schliesslich: Pastor-Bode-Weg. Bald rattern wir voran, der Untergrund ist sandig, von Wurzeln durchzogen, mit etwas Gras bewachsen und links und rechts nichts als Heidelandschaft. Obwohl ich mich auf den Weg konzentrieren muss, schaue ich immer wieder auf, schaue mich um, nehme die Landschaft in mich um, denke, jetzt bin ich in der Lüneburger Heide!

Wir sind in der Heide!

Die Wege fordern mich heraus.
Dann geht es länger bergab, wir können es ziehen lassen, aber da der Boden sehr uneben ist, richtet sich unsere ganze Aufmerksamkeit aufs Fahren. Ich rege mich nicht übers Holpern auf, denn wir sind ja in der Heide! Der Untergrund fordert mich aber, da ich keine Mountainbike-Vergangenheit habe wie Stefanie, das Surly schüttelt die Saccochen, ich höre das Besteck im Küchen-Tupperware klappern. Später wird der Weg noch herausfordernder, zumindest für mich, auf und ab geht es, immer wieder breiten sich grössere Sandstücke auf dem Weg aus, in dem die Reifen unserer Velos sofort schwimmen, dort verliert man rasant an Geschwindigkeit und kann auch kaum mehr lenken, wenn man tritt, drehen die Räder durch. Aber meist reicht es gerade so, dass ein Rad auf griffigem Boden ist und man sich quasi selbst aus dem Sand ziehen kann. Ich vergesse einen Moment lang alles um mich herum, inklusive der Wunde an meinem Bein, die weiterhin besorgniserregend aussieht und immer wieder juckt.

Immer wieder gibt es sandige Pools, die die Geschwindigkeit drastisch reduzieren, aber oft kann man sich mit einem Rad selbst aus dem Pool ziehen.
Den Campingplatz in der Nordheide, an einem Badesee im Dorf Holm-Seppensen, erreichen wir, als die Sonne untergeht. Wir sind müde und spüren die Beine, die Holperstrecke in der Heide hat uns herausgefordert. Stefanie meldet uns an und bezahlt, ich werfe einen Blick auf den Camping. Am See stehen zwei Zelte mit zwei Velos, dürfen wir wohl auch direkt am See zelten, frage ich mich. In der Tat: Bald stossen wir unsere Velos an den beiden Frauen vorbei, die ihre Zelte quer zum See aufgestellt haben. Wir wählen den Boden sorgfältig aus, der sandige Untergrund ist zwar mit Gras bewachsen, aber es wird trotzdem nicht ganz einfach sein, die Häringe sicher zu verankern. Bald haben wir es aber geschafft, während Stefanie das Zelt einräumt, kümmere ich mich um den Apero.
Es dauert einfach immer so lange, Zelt aufstellen, einräumen, duschen, bis es etwas zu essen gibt. Daher haben wir uns angewöhnt, etwas Kleines zu essen, sobald das Zelt steht. Am Kiosk des nahegelegenen Minigolfplatzes erstehe ich einen Teller Kartoffelsalat und zwei Getränke – ein Mezzo Mix für mich. Das ist das Getränk dieser Veloferien – die Mischung aus Cola und Fanta finde ich erstaunlich gut und man findet sie in Deutschland fast überall.

Camping in Holm-Seppensen.

Am Badesee in Holm-Seppensen.
(c) Katharina