Zimmer ohne Frühstück haben wir gebucht und kochen uns Tee am Ufer des Zwischenahner Meeres. Dann rollen wir mehrheitlich der Bahn entlang durch einen lichten Wald nach Oldenburg. In der Innenstadt stossen wir direkt auf dem Ökomarkt und kaufen Heidelbeeren, Nektarinen, Tomaten und Zucchetti.
Die Frau fragt uns, woher wir seien, aus der Schweiz, antworte ich. Sie nickt so anerkennend mit dem Kopf, dass ich erklären muss, dass wir ab Hamburg gefahren seien. Warum nehmen alle Menschen automatisch an, dass wir aus der Schweiz hergefahren seien? Wenn ich dann das mit dem Zug und Hamburg erkläre, finden sie die Leistung schon wieder klein. Meist ist es doch andersrum, sie glauben einem nicht, dass man schon so weit gefahren ist…
Im Zug nach Bremen fällt Stefanies Blick auf meinen Unterschenkel. In der geröteten Fläche rund um die Verletzung hat sich nochmal eine deutlich abgrenzbare Stelle in dunklerem Rot gebildet. Uns ist plötzlich beiden nicht mehr wohl und eine Rückfrage bei Stefanies Mutter, die das Foto von der Stelle prompt in der Apotheke herumzeigt und nach Rat fragt, bestätigt unser Gefühl – ich muss es anschauen lassen, wir sind erst in mehreren Tagen wieder in der Schweiz.
In Bremen bringen wir tatsächlich alle Saccochen und Wasserflaschen in einem Schliessfach unter. In der Bahnhofsmission frage ich nach einer Hausarztpraxis. Ein älterer Mann arbeitet am Computer, ein jüngerer sagt zu mir, hm, da könnte ich ihnen nur (irgendein Name) empfehlen. Der ältere schaltet sich ein und sagt plötzlich, Sie sind nicht obdachlos und ich verneine. Erst da merke ich, dass die meisten Leute, die an einem der Tische hinter mir sitzen, doch etwas verloren aussehen. Nein, sage ich, ich komme zu Ihnen, weil ich hier niemanden kenne und Hilfe brauche. Mittwochnachmittag seien alle Hausarztpraxen geschlossen, sagt der Mann, wie lange sind Sie schon in Bremen? Rund zwanzig Minuten, sage ich und er lacht. Auf einen Zettel schreibt er mir eine Adresse, der notfallärztliche Bereitschaftsdienst in einem Spital.

Alle 8 Saccochen und die Wasserflaschen passen in ein Schliessfach.
Die Frau am Empfang nimmt meine Daten auf, lässt sich erklären, was ich habe. Dann füge ich noch zögernd hinzu, im Prinzip haben wir einen Zug um sechs, wenn Sie es also möglich machen könnten, dass wir ihn erwischen, wären wir Ihnen sehr dankbar. Aber sonst ist natürlich auch okay. Die Frau, Mitte fünfzig, halblange graue Haare und ein recht strenger Blick, schaut zweifelnd auf die Uhr an der Wand, aber ich spüre, dass ich genau den richtigen Ton getroffen habe, bittend, aber verständnisvoll, denn sie sagt schliesslich, setzen Sie sich in Vorraum zwei.
Kaum zehn Minuten später erzähle ich meine Geschichte, die Ärztin sticht die Wunde an und schaut, ob noch ein Zeckenkopf drin sei. FSME-übertragende Zecken gebe es in der Region nicht, sagt sie dann. Alles andere sehe man erst nach rund zwei Wochen, dann desinfiziert sie und entlässt mich wieder.
Wir schaffen den Zug locker, haben die Velos mit den Gummizügen fest vertäut und sitzen mit angeschalteten Readern auf zwei Sitzen. Es wird 18.46, aber der Zug fährt nicht ab. Sehr geehrte Fahrgäste, leider befinden sich zur Zeit Kinder auf dem Geleis, dadurch verspätet sich unsere Abfahrt. Aber die Polizei ist schon unterwegs. Die Nachricht entlockt einigen der entspannteren Fahrgäste ein Grinsen, eine Frau tippt auf dem Handy herum und sagt dann, meine Kinder sind es nicht, die liegen bereits im Bett, habe ich gerade gecheckt. Ausserdem sind sie noch zu klein.
Eine halbe Stunde später sind wir erst auf dem Weg nach Soltau, südlich der Lüneburger Heide gelegen.
Es dunkelt schon ein, als wir die sechs Kilometer von Soltau unter die Räder genommen haben und unser Zelt aufstellen, einen Tee kochen und Brot und Käse essen, bevor wir duschen und uns in den Schlafsack verkriechen. Morgen geht es in die Heide, denke ich, als ich den Kopf auf meinen Kissensack bette, endlich! Ich erinnere mich an die Heide an der französischen Atlantikküste, da war ich wohl fünfzehn oder sechzehn, am Ende der Heidelandschaft hat Hans gesagt, schau dir alles nochmal gut an, wer weiss, ob und wann zu je in die Heide zurückkehrst. Ich habe nochmal die Augen über die ebene Landschaft mit den niedrigen violett blühenden Erika, dem Heidekraut, schweifen lassen, bin noch einige Schritt auf dem federnden Boden mit den blankgelegten Wurzeln gegangen, habe noch einmal an das Gedicht von Theodor Storm gedacht:
Über die Heide hallet mein Schritt;
dumpf aus der Erde wandert es mit.
Herbst ist gekommen, Frühling ist weit –
gab es denn einmal selige Zeit?
Brauende Nebel geisten umher,
schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer.
Wär‘ ich nur hier nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe – wie flog es vorbei!
Mehr als zehn Jahre, ja mein halbes Leben ist seither vergangen und ich kann mich an keine Heidelandschaft dazwischen erinnern. Hans hat recht gehabt, man weiss nicht, ob und wann man zurückkehrt.
Die Lüneburger Heide ist einer jener Begriffe, die einem im Kopf rumschwirren und jedesmal, wenn man sie hört oder an sie denkt, beschwören sie ein Gefühl herauf, eine Notwendigkeit, einmal im Leben dorthin zu fahren, das zu sehen, sich dort zu befinden, dort zu sein, ein Wunsch, ein Punkt auf der Bucket List, auf der sich alles befindet, was man im Leben tun möchte, und dazu gehörte irgendwie auch die Lüneburger Heide. Das Wort Heide selbst löst in mir die Vorstellung einer speziellen, aber nicht unbedingt harmonischen oder hübschen Landschaft aus, sondern eher von einer etwas Kargem und Eintönigem und Weitem. Ich bin sehr gespannt auf morgen!
(c) Katharina