Am nächsten Morgen geniesse ich einen Moment die Ruhe, sitze in meinem Stuhl und lese, während das Teewasser kocht. Ich habe einen Fuss auf das andere Knie gelegt und merke, dass oberhalb des Innenknöchels etwas absteht, wische mit der Hand darüber, es blutet leicht, vielleicht habe ich mich irgendwo unbemerkt verletzt und jetzt hat sich ein Bluttropfen gebildet. Ich vergesse den Vorgang sofort wieder.
Zum Abendessen gestern gab es Speck und Pilze in der Sauce, heute morgen Speck im Rührei. Länger kann man die Speckwürfel nicht aufbewahren. So sitze ich später mit Speck im Mund, kauend, mit geschlossenen Augen in der Sonne und denke, gut geht es mir.

Stefanie macht Frühstück.

Speck mit Rührei.
Meine Ferienbücher habe ich bereits ausgelesen und weil mein Reader bezüglich W-Lan etwas wählerisch ist, lese ich halt nun alte Bücher. „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling über seine Zeit auf dem Camino de Santiago habe ich als unterhaltsames Buch in Erinnerung. Darin sagt ihm eine Frau, Glückseligkeit gebe es nur nach Leid. Das Licht brauche Dunkel, nur auf das Licht könne kein Schatten fallen. Das Dunkel jedoch könne auch ohne Licht existieren. Kerkeling ist erstaunt und hat offenbar darüber noch nie nachgedacht. Das ist vielleicht auch verständlich, als absoluter Couch-Patatoe hat er sich den Weg vorgenommen und macht es ganz gut.
An wesentlich härtere Abenteuer-Bücher gewöhnt, ist mir der Gedanke gut bekannt. Seit ich beschlossen habe, nach Neuseeland zu gehen, hat die Suche nach Grenzen weiter zugenommen. Früher ging es eher um Mut, traue ich mich, Gleitschirm zu fliegen oder in einem Segelflugzeug ein Kunstprogramm mit Looping und trudelndem freien Fall zu sitzen, später ging es eher um körperliche Leistung. Schaffe ich es, mit dem Velo über die Grimsel zu fahren? Auch Neuseeland selbst gehört dazu, schaffe ich es, drei Monate lang beinahe jeden Tag Velo zu fahren? Schaffe ich die Pässe, den Gegenwind, die Hitze, den Regen, die Einsamkeit, das Alleinsein und halte ich mich selbst dabei aus? Kann ich mich motivieren? Kann ich meinen Kopf über meine Beine stellen? Kann ich weitermachen, obwohl ich nicht mehr mag?
Aus körperlich schwierigen Situationen ziehe ich heute eine Zufriedenheit, die in meinem Innersten etwas erschafft, Stein auf Stein legt, die ich nicht mehr verlieren kann. Nicht mehr zu mögen, sich an einer Grenze zu glauben und sich darüber hinwegzusetzen, um zu merken, dass es doch noch geht, hat fast etwas Heilsames, bin ich überzeugt. Natürlich kann man auch brechen, aber bei körperlichen Herausforderungen habe ich den Eindruck, ist das Risiko kleiner als bei psychischen. Auch die Folgen sind anders.
Neuseeland ist mir dieser Tage sowieso nah, nicht nur wegen des Radfahrens. Überraschend hat Christoph, der Ulmer, den ich in Neuseeland kennengelernt habe, einen Gruss von der Nordsee geschickt. Ich bin auch an der Nordsee! habe ich geantwortet und zufällig ist er am Wochenende in Hamburg. Wir haben uns auf ein Bier verabredet!
Leer ist laut den Notizen von Stefanie eine der velofreundlichsten Städte Norddeutschlands. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen, sind wir uns einig und erwarten jetzt natürlich, dass man super rein- und auch wieder rausfindet. Es ist ein hübsches Städtchen mit diversen „Radstrassen“, ganz viel rot geplättelten Häusern, Strassen und allem, was sich halt so plätteln lässt. Vor dem Rathaus orientieren wir uns neu. Unten an der breiten Treppe steht eine Gruppe alter Menschen mit Rosen in der Hand, offenbar ist das Rathaus auch das Standesamt. Ich hätte gerne gewartet und gesehen, wer geheiratet hat – jemand, dessen gesamte Hochzeitsgesellschaft aus alten Menschen besteht klingt nach einer guten Geschichte.

Fahrradstrasse in Leer.
Aber wir fahren weiter, leider ist die Beschilderung nicht ganz so verständlich, wie man sich das wünschen könnte. Trotzdem finden wir einen Bioladen. Ich warte draussen mit den Velos. Ein Mann mit einem Transportvelos ist mit Drillingen unterwegs, die alle an einem Eis lutschen, ungefähr sechsjährige Mädchen. Ein spazierendes Paar spricht ihn auf die Drillinge an und ich überhöre einen Teil des Gesprächs, da ich nur wenige Meter dahinter an meinem Velo lehne. Es ist ganz klar, sagt der Mann, es braucht Struktur und Regelmässigkeit. Wir haben von Anfang an bestimmt, wann gewickelt und gestillt wird. Wenn Sie hier nicht den Ton angeben, haben Sie verloren. Ich nerve mich im ersten Moment, weil die Mädchen gleich angezogen sind, verstehe aber, dass man jeweils gleich dreimal die gleiche Kleidung kauft. Alles andere ist sehr aufwändig – aber warum müssen alle immer genau das gleiche anziehen?
Den Weg aus Leer hinaus finden wir hingegen ziemlich gut. Wir wollen der Leda entlang fahren. Der Radweg endet bald im Wasser – wir müssen eine Pünte nehmen, eine einfache Fähre über die Jümme. Auf einem Schild steht, Fahrgäste bitte Zeichen geben, und als ich keine Klingel oder ähnliches finde, überlege ich, laut zu Juuzen. Dann stellt sich aber heraus, Montag und Dienstag Ruhetag…

Leider ist Ruhetag bei der Pünte (Fähre) über die Jümme.
Also folgen wir der Jümme, einem mäandernden Fluss, dessen Deich so niedrig ist, dass wir praktisch auf der Höhe des Wasserspiegels fahren und über den Deich schauen können. Eine Weile liefern wir uns ein Wettrennen mit einem Schiff „Andrea“ und gewinnen. Als wir in einem kleinen Holzunterstand picknicken, schiebt sich das Schiff aber wieder an uns vorbei. Die Strasse führt eng dem Flüsschen entlang, wir wechseln immer wieder die Himmelsrichtung, haben leichten Gegenwind, dann Rückenwind, immerhin wird schön abgewechselt.

Leider ist Ruhetag bei der Pünte (Fähre) über die Jümme.

Kleiner (einseitiger) Wettbewerb mit dem Schiff „Andrea“.
Wir sind wieder auf dem Land, alle Entgegenkommenden oder Überholenden grüssen, sogar ein Töfflibueb. Wenn wir in eine Stadt kommen, finden wir es zuerst immer komisch, dass die Leute nicht grüssen. Ob sie hier noch „Moin“ sagen wie an der Nordsee, sind wir uns nicht sicher, aber es ist am einfachsten.
In Augustfehn ist es Zeit für einen Kaffee und Stefanie fragt zur Sicherheit in einer Bäckerei nach, ob sie eine Toilette haben. Bald sitzen wir mit einer grossen Schale Milchkaffee und einem Stück Kuchen an einem der vier Tische. Als Stefanie nach dem Klo fragt, stellt sich heraus, dass wir das private Klo der Bäckerin benutzen dürfen. Ich freue mich darüber, die Frau ist sympathisch und als Stefanie zurück ist, lasse ich mich von der Frau zum Klo führen. Der Weg führt durch etliche Räume mit Teigmaschinen und fahrbaren Regalen mit Blechen, auf denen gebackene Teilchen stehen, alles ist weisslich vom Mehl, Mehlsäcke stehen herum. Als wir unser Zvieri bezahlen und noch Brot und ein Rosinenbrötli kaufen, sehe ich das Bioland-Siegel. Es ist eine Bioland-Bäckerei!
Als wir aus der Tür treten, hat Regen eingesetzt. Zwar nieselt es erst noch, aber wir ziehen uns die Regensachen über, wer zeltet, sollte nicht allzu nass werden. Als wir in Bad Zwischenahn ankommen, hat sich der Himmel grau bedeckt und es regnet auf eine zurückhaltende, dauerhafte Art, die durchaus bis morgen dauern könnte. Stefanie schlägt vor, dass wir uns ein Hotel gönnen – wir wollten ursprünglich in Emden eines nehmen, aber dann hatten sich ja die Pläne geändert. Also liegt eine Übernachtung im Hotel durchaus im Budget.
Der Abend wird zu einem Tiefpunkt unserer Ferien: Das Hotelzimmer ist klein und das Fenster können wir nicht öffnen, weil es draussen von der Abluft einer nahen Restaurantküche penetrant nach altem Öl riecht. Da wir grossen Hunger haben, setzen wir uns ziemlich bald in ein Restaurant und essen Fisch, der sich leider als gefroren herausstellt, der Salat wird in der Sauce ertränkt – nur die Pommes Frites sind richtig gut. Wir regen uns über uns selber auf, müssen aber auch ein bisschen lachen – und gönnen uns ein Eis in einer Eisbude.
Damit schlendern wir dem Zwischenahner Meer entlang, einem grossen See. In einer Art Freilichtmuseum wurden hier verschiedene traditionelle Häuser aus der Umgebung aufgebaut, mit Reetdächern und gemauertem Fachwerk – interessiert stelle ich fest, dass das, was ich an den Reetdächern bisher nicht identifizieren konnte, getrocknetes Heidekraut ist.
Loch an Loch und dichtet doch, sagt der zwanzigjährige Lehrling im dritten Lehrjahr als Dachdecker Fachrichtung Reetdach und lächelt uns vom Bildschirm meines Tablets entgegen. Nach dem misslungenen Abend liegen wir im Hotelbett und schauen uns eine Dokumentation über den Beruf Reetdachdecker an. Mit Heidekraut wird der Giebel gefüllt und der Dachfirst gemacht. Es gibt auch Fachwerk, das mit Heidekraut ausgefüllt wird.
Erst gegen halb elf können wir endlich das Fenster öffnen, die Küche hat jetzt geschlossen. Draussen regnet es schon länger nicht mehr, der Himmel hat aufgemacht und wir sind uns reuig und wären lieber im Zelt.
Ich schmiere Fenistil Gel auf meine Wunde über dem Innenknöchel, vielleicht war es halt doch eine Zecke. Der Einstich ist hart geworden und hat sich darum herum rot verfärbt. Ausserdem juckt es.
(c) Katharina